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Misshandlung

TDas Leid der Verschickungskinder aus dem Kreis Stade

Millionen Kinder wurden in Deutschland verschickt, auch aus dem Kreis Stade. Dieses undatierte Foto zeigt Kinder beim Tanzen in einem Kurheim in Bad Dürrheim im Jahr 1959. (Symbolbild)

Millionen Kinder wurden in Deutschland verschickt, auch aus dem Kreis Stade. Dieses undatierte Foto zeigt Kinder beim Tanzen in einem Kurheim in Bad Dürrheim im Jahr 1959. (Symbolbild) Foto: --/Privatfoto/dpa

Nach und nach kommt das Leid der sogenannten Verschickungskinder ans Tageslicht. Auch die beiden Schwestern Birgit K. und Dagmar P. aus dem Kreis Stade mussten auf Kur - eine von ihnen wurde misshandelt, die andere macht sich heute schwere Vorwürfe.

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Von Mario Battmer
Samstag, 30.03.2024, 19:20 Uhr

Landkreis. Millionen Kinder sind in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 1990er Jahre von ihren Familien verschickt worden, ab den 1980ern sprach man von Kur. Meist waren die Kinder vermeintlich zu dünn oder verhaltensauffällig, sollten aufgepäppelt werden. So erging es auch den beiden Altländerinnen Birgit K. (65) und Dagmar P. (68). Die beiden Schwestern mussten Mitte der 60er Jahre sechs Wochen ins niedersächsische Bad Sachsa. Sie möchten ihre Geschichte erzählen, ihren vollständigen Namen oder ein Foto wollen sie nicht öffentlich machen.

Mit der Bahn ging es damals für die Schwestern in Richtung Südharz. Am Stader Bahnhof wurden sie in einen Zug gesetzt, eine Aufpasserin stellte sicher, dass die Kinder auch sicher ankommen. Birgit K., damals etwa fünf Jahre alt, weiß noch, dass sie auf der Fahrt bitterlich geweint hat. Auf dem Hinweg aus Heimweh. Zurück in Stade wegen allem, was ihr in Bad Sachsa widerfahren ist. „Ich habe so doll geweint, dass ich keine Luft mehr bekommen habe.“

Besonders die jüngere Schwester wurde von den Mitarbeitern gezüchtigt. Wenn sie nicht gehorchte, so erzählt sie, musste sie den ganzen Tag in einer Zimmerecke stehen, durfte nicht sprechen, nicht trinken, nicht auf Toilette. Auch die anderen Kinder durften nicht mit ihr reden. Die Strafen konnten auch physisch brutal sein: Ein anderer Junge sei so sehr mit einem Holzbügel verprügelt worden, dass das Holz brach. „Das blüht euch auch, wenn ihr nicht gehorcht“, soll ein Heimmitarbeiter gesagt haben.

Kinder mussten um das Erbrochene herum essen

Eine andere Episode, an die sich Birgit K. noch bildlich erinnern kann, spielt um ihren Geburtstag. Das Geschenk, das ihre Mutter verschickt hat, habe sie nie bekommen. Stattdessen mussten die Kurkinder in Reih und Glied an kleinen Waschbecken Wäsche waschen. „Und dann hat jeder ein Teil aus meinem Geschenk bekommen.“

Zum Essen gab es Graubrot mit Schmalz und eine Obst-Gemüse-Suppe, erinnern sich beide. Wer nicht aufessen wollte, den züchtigten die Mitarbeiter - und selbst wenn die Kinder sich auf den Teller übergaben, dann mussten sie um das Erbrochene herum essen.

Bei Ausflügen in den Wald habe Dagmar P. ihre Schwester getröstet, nur um wenig später selbst in Tränen auszubrechen - versteckt hinter einem Baum. „Sie sollte nicht sehen, wie ihre große Schwester weint.“ Die Kinder durften Karten nach Hause schicken, aber natürlich durften sie nur „Nettes“ an die Familie schreiben. Das tat Dagmar P. auch. Die ältere Schwester sagt, sie sei im Verschickungsheim nicht so gequält worden wie ihre kleine Schwester. Sie mache sich aber Vorwürfe, nichts getan zu haben. „Ich war erst acht Jahre alt, habe aber trotzdem Schuldgefühle.“

Mehr als 1000 Verschickungsheime in Deutschland

Dagmar P. ist überzeugt: Ihre Mutter habe im Nachhinein gewusst, was den Kindern in Bad Sachsa passiert ist. Mehrfach habe sie im Heim angerufen. Birgit K. und Dagmar P. versuchten, während des Telefonats mit dem Personal auf sich aufmerksam zu machen. Vergeblich. „Ein Hilfeschrei, und dann hört die Mutter das nicht? Das macht etwas mit einem.“ Das Ganze sei ein seelischer Schaden, der nicht mehr weggehe. „Ich wurde geboren, um bestraft zu werden“, sagt Birgit K.

Solche oder ähnliche Geschichten haben viele Betroffene erlebt, weiß Anja Röhl vom Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen. Sie selbst war ein Verschickungskind. Die grausamen Erzählungen belegten, dass Verschickungsheime eine „Zuchtstätte für Sadisten“ gewesen seien.

Weit mehr als 1000 Verschickungsheime hat es in Deutschland wohl gegeben. Etwa 100 Heimortgruppen haben sich inzwischen zusammengeschlossen, um die Geschichte an den jeweiligen Standorten aufzuarbeiten - auch für sich persönlich.

Expertin: Skandale und Schlagzeilen heute Einzelfälle

Birgit K. und Dagmar P. tun sich schwer mit der Aufarbeitung. Es sei gut, dass das Thema in den vergangenen Jahren eine Öffentlichkeit gefunden habe, genau deshalb wollen sie ja auch ihre Geschichte erzählen. Aber Dinge wie das kürzlich eingeweihte Mahnmal für Verschickungskinder - eine Stele in Bad Salzdetfurth bei Hildesheim - rissen „eher Wunden wieder auf“, meint Dagmar P. Denn wirkliche Hilfe bekämen Betroffene dadurch auch nicht, meinen die Schwestern.

Zumal sie sicher sind, dass es auch heute noch solche Heime oder Vorfälle wie früher gibt. Schlagzeilen über Misshandlungen belegten das. „Das sind heute Einzelfälle, das Systematische ging in den 80ern und 90ern zu Ende“, sagt Anja Röhl. Das bedeute aber nicht, dass sich solche Systeme nicht wieder entwickeln könnten: Bestimmte Kriterien seien eine Brutstätte für Gewalt. „Wir sollten immer die Augen offen haben“, mahnt Röhl. Damit heute keinem Kind das passieren könne, was ihr und vielen anderen passiert sei.

www.verschickungsheime.de

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