TKurioser Prozessauftakt: Vermeintliche Schleuserin hört nicht auf zu reden

Justizmitarbeiter führen die Hauptangeklagte in den Schwurgerichtssaal. Foto: Helfferich
Drei Frauen und zwei Männer sollen im großen Stile Landsleute nach Deutschland eingeschleust haben. Die Hauptverhandlung vor der 4. Großen Strafkammer beginnt mit erheblichen Problemen.
Stade. Alle fünf Angeklagten sollen sich zu einer Bande zusammengetan haben und zwischen März 2021 und September 2023 illegal und gegen Bezahlung Menschen nach Deutschland geholt haben. Dabei sollen sie immer wieder dieselben Ausweispapiere verwendet haben, teilweise manipuliert. Auf 31 Fälle kommt die Anklage. Federführend soll eine 49-jährige Mutter von sieben Kindern gewesen sein. Zwei ihrer Kinder, die 24-jährige Tochter und ein 28 Jahre alter Sohn, sind mitangeklagt. Außerdem wird ein älteres Ehepaar, 43 und 51 Jahre alt, beschuldigt. Je zwei Rechtsanwälte stehen den Angeklagten zur Seite.
Mit deutlicher Verspätung werden die Angeklagten in den Sitzungssaal geführt, zunächst die Mutter. Mit einem Aktendeckel verbirgt sie ihr Gesicht, setzt sich an ihren Platz. Als kurz darauf der Sohn den Schwurgerichtssaal betritt, bricht sie in Tränen aus. Dann kommt die Tochter, versucht gar nicht erst, ihr Gesicht zu verdecken. „Ich bin unschuldig“, „Ich bin Mutter“, „Ich bin Polizist“, ruft sie in den Saal. So beginnt ein bemerkenswerter Verhandlungstag.
24-jährige Angeklagte redet ununterbrochen
Die 24-Jährige, selbst Mutter von drei Kindern, redet nahezu ununterbrochen, spricht zeitweise von sich in dritter Person und schweigt nach Ermahnung durch ihren Verteidiger Rainer Kattau nur für kurze Zeit.
Gerichtsprozess
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Die Justizmitarbeiter versuchen sie mit viel Geduld zu beruhigen. Selbst die Vorsitzende Richterin Nina Reinecker kann die junge Frau nicht zum Schweigen bringen. Ihre Mutter, die Hauptangeklagte, jammert immer wieder auf. In dieser Szenerie verliest Oberstaatsanwalt Kai Thomas Breas die 41-seitige Anklageschrift, die vom Dolmetscher ins Arabische simultan übersetzt vorgetragen wird. Zu verstehen ist für die Öffentlichkeit kaum etwas.
Schließlich unterbricht Britta von Döllen-Korgel, Verteidigerin der Hauptangeklagten, den Vortrag und mahnt an, dass die Schöffen unter diesen Umständen der Verlesung der Anklage nicht folgen könnten. Die Vorsitzende redet der 24-Jährigen ins Gewissen: „Sie müssen ruhig sein.“ Diese stimmt zu und redet weiter. Ko-Verteidiger Rainer Mertins beantragt eine Unterbrechung.
Oberstaatsanwalt liest 39 Anklagepunkte vor
Auch nach der Pause geht es so weiter, während Oberstaatsanwalt Breas 39 Anklagepunkte vorträgt, nun wenigstens dichter am Mikro. Der Hauptangeklagten werden 28 Straftaten vorgeworfen. Sie soll das Einschleusen der Landsleute organisiert haben. Die Tochter soll in 15 Fällen die Menschen begleitet haben. Den weiteren Angeklagten werden vier bis fünf Beteiligungen vorgeworfen.
Die Eingeschleusten kostete die Masche eine Menge Geld. Eine Familie muss 12.000 Euro zahlen, Einzelpersonen 3000 Euro, in einem Fall 2000 Euro. Mal wurde ein Grundstück übereignet, mitunter mit dem Schleusergeld Schmuck erworben, weshalb auch Geldwäsche angeklagt ist. Insgesamt soll die mutmaßliche Bande mehr als 300.000 Euro eingestrichen haben.
Gerichtsverfahren
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Wieder Pause. Nur widerwillig lässt sich die 24-jährige Angeklagte von den Justizmitarbeitern aus dem Saal führen. „Ich habe keine Angst“, sagt sie. Immer wieder ruft sie Satzfetzen in den Raum: „Ich bin stark“, „Ich bin nicht Schleuser“, „Ich bin Polizist“. Hilflos schaut die 49-jährige Hauptangeklagte zu, versucht, ihre Tochter zu beruhigen, der Bruder ebenso. Schließlich kommt sie mit. Ein anderer Bruder, der aus den Zuschauerreihen den Prozess verfolgt, sagt: „Ich habe meine Schwester noch nie so erlebt.“
Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit der Schwester
Nach der Pause meldet sich das Verteidiger-Duo des mitangeklagten 28-Jährigen zu Wort. „Unser Mandant hatte unter diesen Umständen große Probleme, der Anklage zu folgen“, sagt Rechtsanwalt Christian Remy. „Er versteht nicht, warum seiner Schwester nicht geholfen wird.“ Ko-Verteidiger Ayk Bielke ergänzt: „Er zittert am ganzen Körper und hat in der Pause geweint.“ Er sehe ernste Probleme für die Fortsetzung, denn nun gehe es ans Eingemachte, „womöglich ist er dann selbst verhandlungsunfähig“.
Rechtsanwalt Rainer Mertins, der gemeinsam mit Britta von Döllen-Korgel die Hauptangeklagte verteidigt, zweifelt die Verhandlungsfähigkeit der 24-jährigen an. Deren Verteidiger Rainer Kattau bestätigt: Natürlich sei die Situation schwierig. Seine Mandantin habe seit acht Monaten ihre Familie nicht gesehen, ihre Kinder nur einmal. Er gibt zu Bedenken: „Wenn sie nicht verhandlungsfähig ist, dann muss sie aus der Haft entlassen werden. Denn sie ist dort in die Situation gekommen, in der sie sich befindet.“ Oberstaatsanwalt Breas sieht keinen Hinweis für eine Verhandlungsunfähigkeit und spricht von Undiszipliniertheit.
Kammer und Anwälte führen Verständigungsgespräche
Zur Reglementierung schließt die Kammer die Angeklagte vorübergehend aus, um noch einige formale Punkte verkünden zu können. Außerdem hat sie einen Vorschlag für Verständigungsgespräche erarbeitet, der zunächst mit den Verteidigern und dann mit den Angeklagten besprochen werden soll. Es bleibt abzuwarten, wie sich das mit insgesamt 50 Verhandlungstagen angesetzte Verfahren weiter entwickelt.