TNach Vierfach-Mord in Scheeßel: Was der Militärseelsorger in der Truppe wahrnimmt

Der katholische Militärseelsorger Thomas Nuxoll hört viele Sorgen und Nöte von Soldaten und schildert Eindrücke, wie Angehörige der Truppe mit dem Vierfach-Mord von Brockel und Westervesede umgehen. Foto: Hilken
Der mutmaßliche Todesschütze ist Soldat. Welche Eindrücke sammelt der katholische Militärseelsorger Thomas Nuxoll nach dem Vierfach-Mord von Scheeßel in der Truppe? Der Pastoralreferent aus der Kaserne Seedorf nennt überraschende und einleuchtende Erkenntnisse.
Landkreis Rotenburg. Wann und wo haben Sie von dem Vierfach-Mord erfahren? Mich hat jemand aus Rotenburg angerufen. Ich war der Erste vom psychosozialen Netzwerk, den sie erreicht haben. Weil ich aber nicht am Standort war und daher nicht direkt unterstützen konnte, hat meine evangelische Kollegin in Rotenburg die Begleitung übernommen. Ich hatte den Fall vorher gar nicht wahrgenommen, weil ich an der Ostsee auf einem Einsatz-Nachbereitungsseminar für Familien von Soldaten war, die in Mali gewesen sind.
Waren die Vorfälle aus Brockel und Westervesede dort ein Gesprächsthema? Unter den Rotenburger Soldaten war das natürlich der Fall, aber die Teilnehmer bei dem Seminar kamen nicht aus Rotenburg, insofern war es für sie kein Thema.
Seelsorger: Wie können Menschen sich das antun?
Wie sieht eine militärseelsorgerische Begleitung aus? Wir sind vor Ort, bieten Gespräche an für unmittelbar Beteiligte, organisieren weitere Hilfe, wenn gewünscht. So etwas hat man nicht alle Tage, auch in der Schwere des Ereignisses nicht. Eine solche Tat schockiert jeden Menschen mit klarem Verstand, unabhängig davon, ob es Soldaten sind oder nicht.

Der katholische Militärseelsorger Thomas Nuxoll in Uniform. Foto: Maak
Welche Stimmung nehmen Sie am Standort Seedorf nach den Vorfällen wahr, wo der mutmaßliche Täter stationiert ist? Wer Betroffene kennt, ist natürlich angefasst. Ansonsten ist es eine Mischung zwischen denen, die normal ihrem Dienst nachgehen, bis zu denen, die das Gespräch suchen, weil es sie bedrückt. Es ist ein Kind beteiligt, das bedrückt alle, die selbst Kinder haben. Man wäre kein Mensch, wenn einem das nicht nahe geht. Auch ich habe mich gefragt: Wie können Menschen sich das antun?
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Was haben Sie in der Kaserne seelsorgerisch angeboten? In Rotenburg gab es eine relativ große Andacht der Kollegin. Auch hier in Seedorf gab es eine Andacht. Denn die Menschen müssen irgendwo hin mit ihren Emotionen, ihren Sorgen. In einer Andacht haben die Gedanken Raum. Und man kann dem Impuls nachgehen, etwas zu tun, etwa symbolisch eine Kerze entzünden oder Blumen niederlegen, alles im wahrsten Sinne des Wortes vor Gott zu bringen. Wichtig ist: Wir stehen zusammen, man ist nicht allein mit seinen Gefühlen.
Weniger Auslandseinsätze, aber mehr Übungen
Danach waren Sie auf dem Truppenübungsplatz in Lehnin, wo unter anderem Seedorfer Soldaten ukrainische Kräfte ausbilden. Wie sind die vier Morde nach Ihrem Eindruck dort präsent? Ich habe es in den Gottesdienst eingebunden, wobei es dort nicht so intensiv ein Thema war, auch wenn es, wie es aussieht, einen Kameraden betrifft. Dort gibt es andere Herausforderungen. Man bekommt schwer den Gedanken aus dem Kopf, dass die ukrainischen Soldaten wieder in den Krieg ziehen werden und niemand weiß, wie lange sie das überleben. Dieser Gedanke hat vieles überlagert. Da ist das, was hier passiert ist, sehr weit weg.
Sind Soldaten inzwischen belasteter als noch vor Jahren? Und wirkt sich das möglicherweise auf Beziehungen aus? Es gibt momentan weniger Auslandseinsätze, aber mehr Übungen. Was denselben Effekt hat. Die Männer und Frauen sind lange von zu Hause weg. Für die Familie ist es dasselbe, sie muss viel organisieren, damit alles weiter funktioniert.
Ist dieses lange voneinander entfernt zu sein in einer Partnerschaft ein Klassiker als Ursache für Beziehungsprobleme? Ja. Die Trennungsrate von Partnerschaften bei der Bundeswehr ist überdurchschnittlich, das ist kein Geheimnis. Das hat mit vielen Dingen zu tun, auch mit der relativen Unplanbarkeit, weil die Vorwarnzeit für Einsätze und Übungen teilweise sehr kurz ist, angepasst an die politische Lage. Dafür habe ich keine Lösung, denn es ist eine Notwendigkeit.
„Wer es vorhat, den werden Sie nicht entdecken“
Was raten Sie Soldaten, wie sie in Partnerschaften mit solchen Situationen umgehen könnten? Es hilft nicht zu sagen, als Soldat wisse man, worauf man sich einlässt. Und ein Patentrezept für eine Beziehung gibt es nicht. Gesamtgesellschaftlich beobachte ich, dass es immer weniger Menschen gibt, die beziehungsfähig sind, die sich nicht auf eine Beziehung im klassischen Sinne einlassen wollen oder können, aus welchen Gründen auch immer. Bei Soldaten kommt die dienstliche Belastung noch hinzu. Da muss eine Beziehung schon belastbar sein. Ein Soldat ist eben nicht Herr seiner Zeit. Das macht nicht jeder mit.
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Angesichts dieser Melange aus beruflichen und privaten Belastungen, denen viele Menschen ausgesetzt sind: Haben Sie einen Fall wie den im Raum Scheeßel kommen sehen? Nein. Natürlich stellt man sich die Frage, ob man etwas hätte merken müssen? Ich denke, es ist ähnlich wie die Erfahrung mit Suizidanten: Wer es vorhat, den werden Sie nicht entdecken. Dieser Vorfall ist zwar in Soldatenkreisen verortet, aber er hätte genauso zivil passieren können.
Deswegen gibt es nicht mehr Redebedarf darüber? Nicht mehr als sonst. Klar, akut sprechen uns Soldaten an. Aber ich sage es mal ganz krass: Eine Katastrophe jagt die nächste. Heute ist auf halbmast geflaggt, weil ein Soldat der Kaserne tödlich verunglückt ist. Deswegen gibt es schon wieder ein ganz anderes Thema und der Redebedarf ist wieder ein anderer.
Wo der Seelsorger selbst seine Sorgen lässt
Sie hören viele Sorgen von Menschen. Wie halten Sie sich selbst mental fit? Seelsorger haben die Möglichkeit, Supervision in Anspruch zu nehmen. Ich nutze das persönlich nicht intensiv. Sondern ich sehe es als ein Teil meiner Berufung an, dass ich gut damit umgehen kann. Wenn Sie mich fragen, wo ich damit bleibe? Beim lieben Gott.
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Geraten Sie mit Ihrer seelsorgerischen Hilfe an Grenzen, vermitteln Sie an andere Stellen des psychosozialen Netzwerkes … Genau, momentan sind wir komplett aufgestellt und alle Stellen sind besetzt. Militärseelsorge, Truppenpsychologie, Lotsen und Sanitätsdienst bis zum Sozialdienst. Ich glaube, dass wir für die Soldatinnen und Soldaten und ihre Familien dadurch in Seedorf wirklich ein gutes Netz gespannt haben, sodass jeder seinen Ansprechpartner finden kann, der für ihn am besten passt.
Zur Person
Pastoralreferent Thomas Nuxoll vom katholischen Militärpfarramt Seedorf ist als solcher zuständig für die Standorte Seedorf, Rotenburg und Hesedorf bei Bremervörde sowie für die Kleinststandorte Walsrode und Visselhövede. Der 57-Jährige ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern, wohnhaft in Rotenburg.

Das psychosoziale Netzwerk in der Kaserne Seedorf ist aktuell komplett aufgestellt. Neben dem Sozialdienst und den Militärpfarrämtern gehören unter anderem auch Lotsen und ein Truppenpsychologe dazu. Foto: Hilken