TNotaufnahme am Limit: Das ist der Grund für die vielen Fälle

Wollen die Patienten in Bremerhaven besser steuern: (von links) die Hausärzte Dr. Jan Helge Kurschel und Markus Wedemeyer mit der Medizinischen Fachangestellten Meira Engelken. Foto: rp
Jeden Tag versorgt die Notaufnahme in Reinkenheide 70 Patienten, die dort nicht hingehören. Zwei Bremerhavener Ärzte erklären, was hinter den vielen Fällen steckt und warum es nur einen Weg daraus gibt, damit das System nicht kollabiert.
Bremerhaven. 60 Prozent der Fälle, die täglich zwischen 8 und 23 Uhr in der Notaufnahme des Klinikums Reinkenheide versorgt werden, belasten das Gesundheitssystem unnötig. Denn sie gehören dort nicht hin. „Es bedeutet, dass unsere Notaufnahme aktuell jeden Tag rund 70 Fälle versorgt, für die eine ambulante Versorgung beim Hausarzt, Facharzt oder dem Notdienst aus medizinischer Sicht ausreichend und adäquat wäre“, sagt der Sprecher des Klinikums Reinkenheide, Henning Meyer.
Die Bremerhavener Hausärzte Markus Wedemeyer und Dr. Jan Helge Kurschel erklären, was hinter den vielen Fällen steckt. Und sie sagen, wie jeder Einzelne dazu beitragen kann, dass die Gesundheitsversorgung in Bremerhavens Notaufnahmen in Reinkenheide und im Ameos-Klinikum am Bürgerpark nicht zusammenbricht.
„80 Prozent der Patienten kommen tagsüber in die Notaufnahme, obwohl die Arztpraxen zeitgleich geöffnet sind“, betont Kurschel.
Wer kommt in die Notaufnahme, der nicht dahin gehört?
Kurschel nennt Beispiele: „Menschen, die seit Wochen Kopfschmerzen haben und auf einen neurologischen Termin warten. Weil sie in der Notaufnahme nur kurz angeschaut wurden, riefen sie später den Rettungsdienst, um durch die Hintertür eine schnelle Begutachtung zu bekommen.“
Nachts um drei Uhr kam eine Mutter mit ihrem Kind: Die vermutete Schnittwunde stellte sich als roter Filzstift heraus. Andere kämen mit Rückenbeschwerden, obwohl der Hausarzt gesagt habe: Das dauert, lass uns mal drei Wochen warten, dann können wir immer noch ein MRT machen.
„Ein großer Anteil sind Patienten, die unzufrieden sind mit der Antwort, die sie vom Hausarzt bekommen haben, und nicht warten wollen“, sagt Wedemeyer. „Ein Beispiel: Sie wollten Blut abgenommen oder ein Kopfschmerz-CT haben – und zwar sofort. Wenn sie das beim Hausarzt nicht bekommen, weil der es für medizinisch nicht erforderlich hält, sagen sie: Dann gehe ich halt in die Notaufnahme.“
Aus Sorgen um schwindende Ressourcen im System „beginnt ein Verteilungskampf. Eine Studie belegt: Fast alle Patienten in deutschen Notaufnahmen schätzen ihr Anliegen als dringlich oder sehr dringlich ein, bis zu 80 Prozent können aber wieder nach Hause gehen.“
Die Krankenhäuser dürfen bislang nicht wegschicken, bevor sie die Patienten angeschaut haben. „Daher beginnt dann die komplette Kaskade der Diagnostik“, sagt Kurschel, der Bezirksstellenvorsitzender der Ärztekammer in Bremerhaven ist. Er fordert: „Wir müssen Patienten wieder mehr steuern, damit sie ihre Erkrankung auch selbst besser einschätzen können. Muss ich jetzt wirklich in die Notaufnahme, oder ist es nur Bequemlichkeit, weil ich nicht warten will? Reicht es doch bis zum nächsten Hausarzttermin? Ich kann verstehen, dass Patienten besorgt sind, aber das ganze System wird ausgenutzt.“
Was sind die Lösungen?
Reinkenheide geht davon aus, dass durch den geplanten Umzug des Bereitschaftsdienstes der KV von Mitte zum städtischen Krankenhaus Entlastung kommt. „Wir müssen zudem eine Struktur schaffen, dass ein Krankenhaus Patienten ins ambulante System zurückleiten darf“, sagt Wedemeyer. „Das ist in Bremerhaven in Vorbereitung.“
Wedemeyer und Kurschel setzen Hoffnung in das Strukturierte medizinische Ersteinschätzungssystem SmED, das in Reinkenheide geprüft werde: „Per App auf dem Handy oder an Bildschirmen im Krankenhaus könnten künftig Patienten Fragen beantworten. Dann bekommen sie digital eine Ersteinschätzung, ob sie in der Notaufnahme richtig sind oder zum Hausarzt gehören.“
Haben die Arztpraxen denn die Kapazitäten?
„Auch die Praxen sind überlaufen“, sagt Kurschel. Gemeinsam mit Wedemeyer appelliert er an die Patienten, das System kontrollierter und nur bei wirklichem Bedarf zu nutzen. „In Deutschland hat ein Patient rund 19 Arztkontakte im Jahr, doppelt so viele wie im europäischen Ausland. Jeder geht im Land Bremen im Schnitt zu 1,8 Hausärzten.“ Und die Ungeduld sei oft groß: „Das unkontrollierte ,Ich will aber jetzt‘ verbrennt mehr Ressourcen als eine kontrollierte Behandlung“, ergänzt Wedemeyer.
Die Ärzte nennen Beispiele für nicht genutzte Kapazitäten: „Einige Praxen halten Notfalltermine vor, wenn jemand keinen Hausarzt hat und die Terminhotline 116 117 weitergibt, dass ein Patient unmittelbar angeschaut werden muss. Das wird so gut wie gar nicht genutzt.“ Die Hälfte der Haus- und Facharzt-Termine, die bundesweit unter 116 117 verfügbar waren, wurde nicht in Anspruch genommen.
Das Fazit der Ärzte: „Der Patient muss lernen, dass er sich etwas Gutes tut, wenn er dazu beiträgt, dass das System für alle erhalten bleibt.“ Wenn der permanente Erwartungsdruck schwinde, wären auch wieder mehr Ärzte bereit, Vollzeit zu arbeiten. Außerdem fordern sie: „Die Politik muss differenzierter hinschauen, wer in die Notaufnahmen geht, und helfen umzusteuern. Die alleinige Forderung nach mehr Ärzten hilft nicht.“