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Bildungskrise

TWarum ein Stader Professor zusätzlich zur Uni eine neunte Klasse unterrichtet

Professor Dr. Felix Kruse und die Klasse 9b in Aktion.

Professor Dr. Felix Kruse und die Klasse 9b in Aktion. Foto: Richter

Felix Kruse ist eigentlich Maschinenbau-Professor. Nebenbei unterrichtet er seit zwei Jahren in einer neunten Klasse Mathe. Es ist sein persönlicher Beitrag zur Überwindung der Bildungskrise.

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Von Anping Richter
Donnerstag, 20.06.2024, 19:15 Uhr

Marmstorf. „Mathe ist nicht so mein Fach. Aber bei ihm mag ich es gerne“, sagt Gene aus der 9b über Felix Kruse. Ivica, ebenfalls aus der 9b, denkt, dass Kruses Unterricht anders ist, weil er sich jede Woche wieder von Hochschulniveau auf gymnasiale Mittelstufe umstellen muss: „Er erklärt viel und geht nicht wie andere Lehrer einfach weiter, wenn wir etwas noch nicht verstanden haben.“

Im Land der Ingenieure lassen die Mathe-Kenntnisse nach

Der Mann, den die Schüler so loben, hat nie Pädagogik studiert. Er ist Ingenieur, lebt in Stade und lehrt als Professor an der HAW in Hamburg Maschinenbau. Heute allerdings geht er seinem Zweitjob nach - in einem Klassenzimmer im Hamburger Stadtteil Marmstorf. Es geht um Sinus und Kosinus. Eben hat er noch am Smartboard erklärt, jetzt wird geübt. Er beugt sich über die Hefte von zwei Schülerinnen, die bei ihrer Rechnung nicht weiterkommen.

„Viele Studenten, die bei mir in der Uni anfangen, können das nicht“, berichtet Felix Kruse. Das habe ihn geschockt. Dazu merkte er, dass sich von Semester zu Semester weniger Studenten für Maschinenbau einschreiben. Ausgerechnet in Deutschland, dem Land der Ingenieure.

Mathelehrer-Mangel: Schulleitung rekrutiert auch unter Eltern

Woran liegt das? Und wie soll das in Zukunft werden? Das fragten Felix Kruse und sein Kollege Enno Stöver, der auch an der HAW lehrt, sich immer wieder. Wie Kruse hat auch Stöver Kinder, und so erreichte die Bildungskrise ihn eines Tages ganz persönlich: In Gestalt eines Schreibens von der Schule seines Sohnes. Die Schulleitung fragte, ob es in der Elternschaft vielleicht Menschen gebe, die beruflich in Mathe bewandert sind. Stöver sprach seinen Kollegen Kruse an. Sie sahen eine Chance: Hier konnten sie selbst ganz praktisch etwas gegen die Bildungskrise tun. Sie meldeten sich.

Zwei voll ausgebildete, im Unterrichten versierte Kräfte - Schulleiter Jens Kappelhoff konnte sein Glück kaum fassen. Das Immanuel-Kant-Gymnasium in Marmstorf gehört zu Hamburg, wo die Lehrkräfteversorgung im Vergleich zum Landkreis Stade als gut gilt. Doch Marmstorf hat ähnliche Probleme wie der Kreis: Junge Lehrkräfte zieht es in die Metropole, aber nicht unbedingt in die Außenbezirke südlich der Elbe. Und Mathematik ist ohnehin Mangelfach.

„In Fächern wie Mathe bemühen wir uns, keine Lücken entstehen zu lassen“, sagt Kappelhoff. Den eigenverantwortlichen Schulen obliegt es, selbst Lehrpersonal zu rekrutieren. Für die 650 Schüler gibt es in Marmstorf 55 Lehrkräfte, von denen 15 und mehr externe Lehrauftragnehmende sind. Wie Kruse und Stöver, die im August 2022 an die Schule kamen - mit vielen Fragen.

Im Klassenraum ist eine Bühnenshow angesagt

Frontalunterricht wie in der Uni funktioniere in der Schule gar nicht, sagt Felix Kruse. Im Klassenraum sei eher eine Bühnenshow gefragt: „Wenn einer sein Handy herausholt, ist das schon ein Alarmzeichen.“ Um Inhalte anschaulich und spannend zu vermitteln, stellt er mit den Schülern zum Beispiel Graphensysteme auf dem Schulhof nach oder macht mit der Kahoot-App ein Online-Quiz. Es brauche „Classroom-Management-Skills“, sagt Kruse - Handwerkszeug, um eine Klasse aufmerksam und ruhig zu halten.

Kruse ist froh, dass er eng an die Fachleitung Mathematik angebunden ist und außerdem mit einer Fach-Kollegin in der 9a eine Partnerin hat, mit der er sich austauschen und vergleichen kann, wie seine Klasse vorankommt. Für externe Neuankömmlinge gibt es eine Info-Broschüre und schulinterne Fortbildungen, zum Beispiel zu der Frage: Wie kann eine Schulstunde aussehen?

„Das hier ist Arbeit. Eine Vorlesung zu halten, ist deutlich einfacher“, sagt Felix Kruse. Die Schüler findet er allerdings sehr liebenswert: „Die Klasse hatte ich von Anfang an und bin froh, dass ich sie weiter begleiten durfte.“ Dass er den Job zusätzlich zu seinem 100-Prozent-Lehrauftrag an der Uni bewältigt, beeindruckt Jens Kappelhoff. Kruse sagt: „Ich habe hier den größten Respekt vor Lehrkräften bekommen.“ Für ihn nach acht Jahren Professur sei es eine interessante Abwechslung, aber Tag für Tag in der Schule zu unterrichten sei etwas ganz anderes.

Seiteneinsteiger könnten mehr Praxisbezug in die Schule bringen

Kappelhoff, Kruse und seinen Kollegen Enno Stöver hat das Experiment inspiriert. Sie stellen sich vor, dass es zwischen Hochschule und Schule enge Kontakte und einen flexibleren Austausch von Personal geben könnte - wie in Marmstorf. Ein qualifizierter Seiteneinstieg könnte eine unbefristete Anstellung als Lehrkraft ermöglichen, die Fortbildung könnte die Volkshochschule übernehmen. Den Schülern würde das mehr Praxisbezug bringen - und vielleicht würden sich wieder mehr junge Leute für ein Maschinenbau-Studium interessieren.

Der Schulleiter und die Professoren sind überzeugt: „Das hat Riesen-Potenzial.“ Die 14-jährige Elif aus der 9b sieht das ähnlich. Nur mit anderer Begründung: „Der Erwartungsdruck ist geringer, die Atmosphäre ist viel entspannter. Trotzdem lernen wir mehr.“

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