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Nordkehdingen

TVollzeit trotz Handicap? Der Amtsarzt traute ihr das nicht zu

Sigrid Unruh arbeitete trotz ihrer Behinderung 45 Jahre Vollzeit als Verwaltungsfachkraft in Nordkehdingen. Die letzten fünf Jahre im Homeoffice in Assel.

Sigrid Unruh arbeitete trotz ihrer Behinderung 45 Jahre Vollzeit als Verwaltungsfachkraft in Nordkehdingen. Die letzten fünf Jahre im Homeoffice in Assel. Foto: Daniel Berlin

45 Jahre arbeitete Sigrid Unruh bei der Samtgemeindeverwaltung in Nordkehdingen. Und sie ist stolz, was sie trotz Handicap geschafft hat. Die Geschichte einer Kämpferin.

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Von Susanne Helfferich
Samstag, 12.04.2025, 17:50 Uhr

Nordkehdingen. Als Säugling hatte Sigrid Unruh eine nicht erkannte Entzündung im Rückenmark, die in der Folge Nervenbahnen vor allem in den Beinen lähmte. Die Aussichten für das kleine Mädchen waren darum nicht rosig. Als sie ein Internat für Kinder mit Behinderung besuchen sollte, sprach ihr Vater mit dem Rektor der örtlichen Schule, ob Sigrid nicht doch in Assel eingeschult werden könne - und der stimmte zu.

Auf dem Gepäckträger zur Schule

„Meine Mutter setzte mich jeden Morgen auf den Gepäckträger ihres Fahrrades und brachte mich zur Schule“, erzählt die 64-Jährige. So ging es bis zum Ende der zweiten Klasse. Dann war das heutige Schulgebäude fertig und Sigrid Unruh musste drei Haltestellen mit dem Schulbus zur Schule.

„Ich hatte ein großes Dreirad, mit dem ich zur Bushaltestelle fahren konnte“, erzählt sie, „das parkte ich dann dort und meine Mitschülerinnen halfen mir beim Einsteigen.“ So besuchte sie dann später auch die Realschule in Drochtersen. Barrierefrei waren die Busse damals noch nicht.

Damals habe sie noch keinen Rollstuhl gehabt. „Unser Hausarzt war der Ansicht, ich würde dann zu faul und meine Muskeln könnten verkümmern.“ Doch bei ihren regelmäßigen Spaziergängen mit den Eltern musste die Familie immer einen Klappstuhl mitnehmen, damit Sigrid sich ausruhen konnte.

Sie wollte schon immer im Büro arbeiten

Einen Rollstuhl bekam Sigrid Unruh erst, als sie nach dem Realschulabschluss nach Bad Pyrmont ging, um sich dort über das Berufsförderungswerk für Menschen mit Einschränkungen zur Verwaltungsfachkraft ausbilden zu lassen.

„Ich hatte mir schon als Kind immer gewünscht, im Büro zu arbeiten“, erzählt sie. Der Amtsarzt, der sie begutachtete, sei damals skeptisch gewesen: „Er meinte, vielleicht könne ich ein paar Stunden arbeiten, aber sicher keine Vollzeit“, erinnert sich Unruh. Der Mediziner sollte sich täuschen.

Nach einem Praktikum in der Nordkehdinger Samtgemeindeverwaltung und dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung stellte der damalige Samtgemeindedirektor Heinrich Hagedorn Sigrid Unruh im Dezember 1979 zum 1. April 1980 ein - Vollzeit und unbefristet. Was noch fehlte: Die damals 19-Jährige hatte noch nicht die Führerscheinprüfung bestanden. „Mein Papa konnte mich ja nicht jeden Tag nach Freiburg fahren, bevor er selbst zur Arbeit fuhr“, sagt Sigrid Unruh.

Arbeitsvertrag und Führerschein zu Weihnachten

Schon der Fahrunterricht war eine Herausforderung: Zwar hatte der Fahrschullehrer ein Auto mit Handbedienung, aber es fehlte eine Servolenkung. „Ich hatte nicht viel Kraft in den Armen und fing schon an, Hanteltraining zu machen“, erzählt Unruh. Doch der Fahrlehrer nahm Kontakt mit der VW-Zentrale in Wolfburg auf und ihm wurde tatsächlich ein Testwagen mit Handbedienung und Servolenkung zur Verfügung gestellt.

Nur einen Tag nach der Zusage aus dem Freiburger Rathaus kam die zweite gute Nachricht: Die frischgebackene Verwaltungsmitarbeiterin hatte die Führerscheinprüfung bestanden. „Diese beiden Nachrichten waren mein schönstes Weihnachtsgeschenk“, so Sigrid Unruh. Auch ein passendes Fahrzeug wurde für die Fahranfängerin gefunden: ein Volvo 66, ein Kleinwagen, der mit einem von DAF entwickelten stufenlosen Automatikgetriebe, der Variomatic, ausgestattet war. Und es konnte eine Servolenkung eingebaut werden.

Sie will anderen Betroffenen Mut machen

So hatte die junge, willensstarke Frau wieder ein Stück Selbstständigkeit gewonnen. „Ich bin schon ein bisschen stolz auf mich“, räumt Sigrid Unruh ein. Manchen Skeptikern zum Trotz hat sie 45 Jahre weitgehend Vollzeit gearbeitet. Sie weiß aber auch um die Unterstützung, die sie erfahren durfte.

Im Ruhestand soll keine Langeweile aufkommen: Ein Puzzle mit 500 Teilen bekam Sigrid Unruh von ihren Kollegen zum Abschied.

Im Ruhestand soll keine Langeweile aufkommen: Ein Puzzle mit 500 Teilen bekam Sigrid Unruh von ihren Kollegen zum Abschied. Foto: Daniel Berlin

„Ich konnte mein Geld selbst verdienen und musste nicht beim Sozialamt oder Jobcenter vorstellig werden, und ich bekomme jetzt meine eigene Rente.“ Sie möchte anderen Menschen mit körperlichen Einschränkungen Mut machen, nicht zu resignieren und für jedes kleine Stück Eigenständigkeit zu kämpfen.

Die 45 Jahre wollte die 64-Jährige unbedingt erreichen. Offiziell sollte sie bereits zum 31. Dezember 2024 in Ruhestand gehen. Doch als sie von einem Personalengpass in der Verwaltung erfuhr, sprang die Verwaltungsfachkraft sofort wieder ein und arbeitete noch weitere drei Monate. Nun hat Sigrid Unruh die 45 Jahre voll, die sie mit Kollegen und Kolleginnen aus dem Freiburger Rathaus feierte.

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