TWie eine kleine Dorfschule zum Lost Place wurde

Ein altes Fotoalbum liegt aufgeschlagen in einem der verlassenen Räume. Foto: Glückselig
In der Butjadinger Wisch steht ein seit Jahrzehnten verlassenes Haus. Doch der Ort erzählt ein spannendes Stück Schulgeschichte.
Butjadingen. Jörg Kuck lenkt seinen Wagen um eine Kurve. Dann um noch eine. Und noch eine. Schließlich biegt er in einen Feldweg ein und parkt neben einer Gruppe alter Bäume, durch deren Kronen der Wind rauscht. „Hier ist es“, sagt der Landwirt, der die Gegend kennt wie seine Westentasche; sie ist sein Jagdrevier.
„Es“, das ist ein verlassener Ort, ein Lost Place. Aber auch ein Ort, der eine spannende Geschichte zu erzählen hat. Ein Stück Butjadinger Schulgeschichte. Inmitten der Bäume verbirgt sich - kaum sicht- und auffindbar, wenn man nicht genau weiß, wo es steht - ein Haus. Einst lernten hier Kinder aus Süllwarden das Lesen und Schreiben.

Seitenansicht des alten Gebäudes. Die Fenster wurden teils erneuert. Foto: Glückselig
Hölzerne Tür nur noch zu erahnen
Jörg Kuck stapft durch das Dickicht, das das Gebäude umgibt. Eine Giebelwand ist komplett mit wucherndem Efeu eingewachsen. Eine alte, hölzerne Tür ist in all dem Grün nur noch zu erahnen. Führte sie einst in einen Stall?
Die anderen drei Seiten des Hauses sind frei von Bewuchs. Zerborstene Fensterscheiben gewähren einen ersten Blick ins Innere, in dem es chaotisch aussieht.
Von der offenstehenden Eingangstür baumelt ein alter Vorhang, der wohl einmal dazu gedient hat, Mücken und Fliegen draußen zu halten.

Matratzen, ein alter Sessel und jede Menge weiterer Sperrmüll - so sieht es im Inneren des Hauses aus. Foto: Glückselig
„Pass auf, der Fußboden könnte an manchen Stellen morsch sein“, warnt Jörg Kuck, als wir das Haus betreten und uns vorsichtig durch das Halbdunkel vortasten.
Zimmer gleichen Sperrmüllhalde
Was der Blick durch die Fenster schon erahnen ließ, bestätigt sich im Inneren. Die Zimmer gleichen einer Sperrmüllhalde. Alte Matratzen und Teppiche geben sich ein wirres Stelldichein mit ausrangierten Sesseln und den Überresten dessen, was mal die Küche war.
In einem Raum liegt ein „Jerry Cotton“-Groschenroman, ein Zimmer weiter ein aufgeschlagenes Fotoalbum mit vergilbten, an den Seiten ausgefransten Fotos von Menschen. Haben sie hier einmal gewohnt? Oder hat einfach jemand das verlassene Haus genutzt, um das Fotoalbum zu entsorgen? So wie all den anderen Sperrmüll?

Dieser Raum war offenbar mal eine Küche. Foto: Glückselig
Das Haus verfügt über einen Keller und ein Obergeschoss. Wir ersparen uns beides bei unserem Streifzug durch die Vergangenheit. Zu gefährlich, meint Jörg Kuck, der schätzt, dass das Gebäude seit mindestens 40 Jahren nicht mehr bewohnt ist.
Erste Süllwarder Schule um das Jahr 1630 gegründet
Und hier, ein ganzes Stück weit weg vom Dorf, wurden einmal Kinder unterrichtet? Jein.
Die Geschichte der Süllwarder Schule ist nicht leicht zu recherchieren. Zwar verwahren die Archivare des Rüstringer Heimatbundes eine alte Chronik mit Schwarz-Weiß-Fotos, Zeitungsartikeln und teils handschriftlich verfassten Texten.

Inmitten von anderem Sperrmüll liegt ein alter „Jerry Cotton“-Roman. Foto: Glückselig
Doch die Chronik beginnt erst in den 1950er Jahren und spart die frühere Geschichte der Süllwarder Schule weitgehend aus.
Verbrieft ist, so steht es unter anderem in dem Buch „Geschichten aus dem Rüstringer Archiv“ des Nordenhamers Heddo Peters, dass es in Butjadingen einst in jedem noch so kleinen Ort eine Schule gab. Die Schulen in Süllwarden und im benachbarten Seeverns wurden Heddo Peters‘ Aufzeichnungen nach in der Zeit um 1630/40 gegründet.

Das Haus versteckt sich hinter alten Bäumen. Wer nicht weiß, dass es dort steht, wird es kaum finden. Foto: Glückselig
Lehrer auf eigene Faust engagiert
In den größeren Kirchdörfern wie Tossens, Stollhamm, Eckwarden, Alt-Waddens und Burhave gab es zu der Zeit längst Schulen; sie waren bereits im 16. Jahrhundert gegründet worden.
Doch diese Orte waren zu weit weg für die Kinder in den abseits gelegenen kleinen Ortschaften. Im Herbst und Winter waren die Feldwege nass und aufgeweicht. Die Kinder konnten sie nicht passieren. Und so richteten Eltern in privater Initiative sogenannte Klippschulen ein.

Offenbar verfügte das Haus auch über einen Stall, wie dieses Fenster mit Gittern im Inneren vermuten lässt. Foto: Glückselig
Sie engagierten auf eigene Faust Lehrer. Meist waren es, wie Heddo Peters festhält, entlassene Soldaten, Handwerker oder andere Leute, die bereit waren, die Kinder für kleines Geld und einen „Freitisch“ zu unterrichten - als Qualifikation reichte, selbst einigermaßen lesen und schreiben zu können.
Deshalb ärgerten sich die Ortspfarrer über die kleinen Dorfschulen
Den Ortspfarrern waren die Klippschulen stets ein Dorn im Auge, gab es an ihnen doch keine christliche Unterweisung, keinen Religionsunterricht also. Unter dem Druck der Kirche wurden daher in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nach und nach alle Klippschulen in Nebenschulen verwandelt oder neu eröffnet.
Eine solche Nebenschule, von denen es damals nicht weniger als 17 Stück gab, war auch die Schule in Süllwarden.

Die „neue“ Süllwarder Schule steht direkt im Dorf. Sie beherbergte einst eine Musiker-Kommune. Heute finden sich dort Ferienwohnungen. Foto: Glückselig
Wo genau in diesen frühen Jahren der Unterricht in dem Dorf stattfand, bleibt unklar. Das erste Schulgebäude, von dem die Chronik aus dem Rüstringer Archiv berichtet, ist ein 1707 errichtetes kleines Reetdachhaus direkt im Ort. Es wurde einem alten Zeitungsartikel zufolge bis 1839 genutzt.
Neue Schule für Süllwarden
Dann zog die Schule um an jenen etwas außerhalb des Dorfes gelegenen Ort, auf dem heute das verlassene Haus steht. Dieses Haus, das zumindest bis vor 40 Jahren als Wohnhaus diente, ist aber offenbar jüngeren Datums. Denn das alte Schulgebäude, so verrät es die Chronik, brannte ab.
1910 erhielt Süllwarden eine neue Schule, die wieder direkt im Ort lag - und noch immer liegt. In dem Gebäude befinden sich heute Ferienwohnungen. Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre lebte darin eine Musiker-WG, aus der unter anderem die Jazzrock-Formation Una Banda de Musica hervorging; im norddeutschen Raum brachte die Gruppe es ab 1982 zu einiger Bekanntheit. Doch das ist eine andere Geschichte.
Sterben der kleinen Volksschulen setzt Mitte der 1960er-Jahre ein
Das Sterben der kleinen Volksschulen - Anfang des 20. Jahrhunderts waren es auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Butjadingen noch 14 - setzte ab der Mitte der 1960er-Jahre ein. Die Schule in Süllwarden wurde 1967 aufgegeben. Heute gibt es in Butjadingen nur noch eine Grundschule - in Burhave.