Interview

Pianist Justus Franz: „An den Schulen wird oft zu wenig Wert auf Kultur gelegt“

Der Pianist, Dirigent, TV-Moderator und Visionär des Musiklebens Justus Franz spricht im Interview mit TAGEBLATT-Mitarbeiterin Dagmar Gehm über ewige Jugend, sein plötzliches Ende beim Schleswig-Holstein Musik Festival und die Rolle der Kultur an den Schulen.

Sonntag, 23.01.2022, 12:02 Uhr
Dirigent Justus Frantz veranstaltet im Juli auf Gran Canaria sein jährliches „Finca Festival Frantz & Friends“.

Dirigent Justus Frantz veranstaltet im Juli auf Gran Canaria sein jährliches „Finca Festival Frantz & Friends“.

TAGEBLATT: Herr Frantz, nach rund sechs Jahrzehnten ständigen Schaffens scheinen Sie noch immer über eine unerschöpfliche Kreativität zu verfügen. Forever young durch permanent neue Herausforderungen?

Justus Franz: Ich denke, dass ich ein uralter Mensch wäre, wenn ich mit 65 aufgegeben hätte zu arbeiten. Das erlebe ich bei Menschen, die schon lange pensioniert sind. Die Freude am Altenteil dieses Lebens kann ich überhaupt nicht teilen, weil Menschen mit ihren Aufgaben wachsen und jung bleiben. Im Moment hat mir der liebe Gott noch nicht gesagt, dass mein Füllhorn leer ist – ganz im Gegenteil.

Sich immer wieder neu zu erfinden, scheint in Ihren Genen zu liegen. Vor Jahren haben Sie ein völlig neues Format der klassischen Musik für breite Schichten geschaffen. Welche Ideen wollen Sie als Nächstes umsetzen?

Ich möchte mehrere Festivals gründen, die den europäischen Gedanken sehr deutlich unterstützen. Als überzeugter Europäer bedauere ich sehr die Bürokratisierung Europas und hoffe, dass wir irgendwann zu einer lebendigen, schöpferischen Demokratie zurückfinden, statt uns nur über den Krümmungsgrad von Bananen unterhalten müssen.

Als Gründer des Schleswig-Holstein Musik Festivals haben Sie dort den Tourismus angekurbelt, wurden ohne Ende dafür gefeiert, und dann das plötzliche Aus Ihrer Mitwirkung. So wirklich hat man nie erfahren, warum.

Es gab damals viele Neider, die mir die Freude daran vergällten. Deshalb habe ich schließlich gekündigt. Der Aufsichtsrat hat mir danach durch einstimmiges Votum für exzellente Arbeit sein hundertprozentiges Vertrauen ausgesprochen. Heute ist das Festival bei meinem Nachfolger Christian Kuhnt und dem Chefdramaturgen Frank Siebert in sehr guten Händen.

Worauf sind Sie neben dem Festival besonders stolz in Ihrem Leben?

Musikalisch gesehen habe ich ein paar Aufnahmen gemacht mit den größten Dirigenten – Leonard Bernstein, Herbert von Karajan, die Drei-Klaviere-Aufnahme mit Helmut Schmidt – das waren große Momente in meinem Leben. Und ich habe zweimal die bestverkaufte Klassik-CD gemacht, einmal mit Christoph Eschenbach (Mozart und Schubert) und einmal mein Schumann-Konzert mit Leonard Bernstein und den Wiener Philharmonikern.

Sie scheinen außerdem über die große Gabe zu verfügen, wie Phönix aus der Asche selbst aus den größten Schicksalsschlägen gestärkt hervorzugehen. Wie gelingt Ihnen das?

1980 hatte ich in China einen schweren Unfall, lag mit gebrochenem Rückgrat im Koma, wurde dennoch nach Deutschland geflogen und dort weiterbehandelt. Jahre später folgten Herzprobleme, eine lebensbedrohliche Blutvergiftung und ein Unfall mit einem Finger, der in die Brotschneidemaschine geraten war. Trotzdem kann ich wieder Klavier spielen. Ein großes Beispiel für nie versiegenden Optimismus war meine Mutter: Ihre Eltern – meine Großeltern – in Schlesien waren sehr wohlhabend. Doch innerhalb von einer Woche haben wir alles verloren – die Heimat, das Geld und schließlich meinen Vater, der von den Nazis erschossen wurde. Trotzdem hat sich meine Mutter nie beklagt, sondern dafür gesorgt, dass wir eine glückliche Jugend auf Gut Testorf in Ostholstein verbringen durften. Dafür, dass ich so reich beschenkt wurde, bin ich unendlich dankbar.

Wegen Corona haben Sie bereits 230 Konzerte absagen müssen, und nun noch last minute das Neujahrskonzert in Lübeck mit der Philharmonie der Nationen. Wie bitter ist das für Sie und die Musiker?

Die Absage hat uns wirklich sehr traurig gemacht. Man arbeitet so lange für ein Konzert, ringt um dessen Perfektion, und dann löst sich alles in nichts auf. Aber Gott sei Dank haben wir schon einen neuen Termin: den 2. April 2022 in der MuK (Musik- und Kongresshalle) Lübeck.

Sie verstehen sich als Botschafter für das musikalische Erbe Mitteleuropas und insbesondere Deutschlands in der Welt. Glauben Sie, dass Sie mit Ihrer Botschaft genügend Menschen erreichen?

Meine TV-Sendung „Achtung! Klassik“, die von 1990 bis 2000 lief, hatte Traumeinschaltquoten, sie lagen in der Spitze bei 15 Prozent. Das Prinzip beruhte darauf, mit klassischer Musik möglichst viele Zuschauer mit großer Musik zu begeistern. Jetzt habe ich den Eindruck, dass sich das deutsche Bildungssystem zu wenig der Kultur widmet. Denn wie können sich Menschen für Kultur entscheiden, wenn sie gar keine Kenntnis davon haben? Leonard Bernstein hat einmal gesagt: „Deutschland ist erst dann eine Demokratie, wenn sich jeder frei entscheiden kann.“

Was läuft da so falsch? Und an welchem Hebel könnte man ansetzen, um es zu ändern?

Ich glaube, wir befinden uns in einer sehr schwierigen Zeit. Mir scheint, an den Schulen wird oft zu wenig Wert auf Kultur gelegt. Damit verspielen wir etwas, das dieses Land sehr reich gemacht hat. Oft messen sich heute Kinder untereinander daran, welche teuren Markenschuhe sie tragen und wie sie ihren Reichtum in ihrem Outfit unterbringen können. Deswegen bin ich ein erklärter Verfechter einer Schuluniform, wie sie mein jüngster Sohn Justus Konstantin jetzt in England trägt. Kinder müssen durch ihre Begabung, ihre Kenntnisse herausstechen, aber nicht, welche Kleidung sie tragen oder welche Smartphones sie benutzen.

Auf Gran Canaria veranstalten Sie im Juli Ihr jährliches „Finca Festival Frantz & Friends“. Gelingt es Ihnen trotzdem, den musikalischen Hochleistungs-Akku dort ein bisschen herunterzufahren?

In erster Linie bin ich auf der Finca Bauer, pflanze Bäume und überlege mir zum Beispiel, wie mein Cherimoya-Strauch noch mehr dieser wunderbaren Früchte tragen kann. Denn auf Gran Canaria gehen kaum Insekten auf die Blüten der südamerikanischen Pflanze. Also versuche ich mit einer weichen Zahnbürste, die Staubgefäße auf die Narben zu bringen. Auf der Finca habe ich das Gefühl, die Wüste fruchtbar zu machen. Im übertragenen Sinne versuche ich mit meiner Musik und durch die Aufrechterhaltung der Kultur bei Kindern, auch etwas gegen die Verwüstung der Seelen zu tun.

Sie gelten auch als Visionär der Nachhaltigkeit. Was genau schwebt Ihnen da vor?

Die Sahara in einen Regenwald zu verwandeln. Wir könnten sie so grün machen, wie sie es vor Tausenden von Jahren einmal war. Jeder beklagt den Verlust der Regenwälder, aber niemand tut etwas dagegen. Da wir heute Meerwasser entsalzen können, wäre es sicherlich auch möglich, die riesige Sahara zu bewässern und einen fantastischen Regenwald dort anzulegen.

Bitte ergänzen Sie ...

Wenn ich das Rad zurückdrehen könnte, würde ich … die Schule reformieren.

Mein Alter ist mir egal, weil … der liebe Gott mir meine Jugendlichkeit erhalten hat.

Ich lebe gern in Hamburg, weil … ich mich hier gut konzentrieren kann.

Der Ort in Hamburg, der mich am meisten inspiriert … ist die alte Musikhalle.

Wenn es keine Pandemie gäbe, würde ich jetzt am liebsten … eine große Konzerttournee durch Südamerika machen.

Am meisten kann ich mich ärgern, wenn … Leute, ohne nachzudenken, Mainstream-Argumente vortragen.

Zur Person

Geboren 1944 in Hohensalza (heutiges Polen), wuchs Justus Frantz im ostholsteinischen Testorf auf. Er studierte Klavier bei Eliza Hansen und Wilhelm Kempff sowie Dirigieren bei Wilhelm Brückner-Rüggeberg. Der internationale Durchbruch gelang 1970, als Herbert von Karajan den jungen Pianisten engagierte. 1975 folgten Auftritte in den USA mit Leonard Bernstein und den New Yorker Philharmonikern. 1986 rief er das Schleswig-Holstein Musik Festival (SHMF) ins Leben, das er bis 1994 als Intendant leitete.

1995 gründete er, mitinspiriert von Leonard Bernstein und Yehudi Menuhin, die Philharmonie der Nationen, die in über 1000 Konzerten auftraten, unter anderem bei einem Exklusivkonzert bei Papst Johannes Paul II. Weitere Gründungen: Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, Mendelssohn-Gesellschaft in Hamburg und Brahms-Gesellschaft in Schleswig-Holstein, deutsch-sowjetische Philharmonie mit Valery Gergiev, „Finca Festival Frantz & Friends“ auf Gran Canaria.

Von 1990 bis 2000 moderierte er die TV-Sendung „Achtung! Klassik“. Jährlich gibt Frantz unentgeltlich rund 100 Konzerte für junge Leute, stiftete den Hindemith-Preis für junge Komponisten und war Professor an der Hamburger Musikhochschule. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen wie die Goldene Kamera, den Bambi und den Grammy. Justus Frantz hat zwei Söhne, die sein musikalisches Erbe angetreten haben: Justus Konstantin ist 16, Christopher Tainton ist 47. Justus Frantz ist geschieden. Er lebt in Harvestehude.

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