Interview

Polizeiermittler und Archäologen: True Crime aus erster Hand

Die Leidenschaft bei der Suche nach seltenen Fundstücken und Kulturschätzen hat Leon Ziemer, der neue Leiter des Hamburger Polizeimuseums, mitgebracht. Im Interview erzählt der Wissenschaftler und Forscher über „Indiana Jones“ und die Parallelen zum Polizeimuseum.

Samstag, 03.06.2023, 18:01 Uhr
Leon Ziemer, der neue Leiter des Polizeimuseums, muss im Dienst keine Uniform tragen. Foto: Ertel

Leon Ziemer, der neue Leiter des Polizeimuseums, muss im Dienst keine Uniform tragen. Foto: Ertel

TAGEBLATT: Wie war eigentlich als junger Mann oder Student Ihr Verhältnis zur Polizei?

Leon Ziemer: Ich hatte eigentlich gar keins. Ich bin mit der Polizei selten in Kontakt gekommen und habe sie auch selten wahrgenommen.

Haben Sie sich nie über Polizeieinsätze bei Demonstrationen geärgert, sind Sie nie geblitzt worden oder bei Rot über die Ampel aufgefallen?

Ich könnte jetzt sagen, da war die Polizei auffällig unauffällig in meinem Leben und ich bin nie erwischt worden (lacht). Aber natürlich kriegt man mal ein Knöllchen oder fährt auch mal zu schnell, aber ich habe zum Beispiel bei Demonstrationen immer aufgepasst, dass ich nicht in der ersten Reihe landete oder da wo was passierte. So bin ich tatsächlich ganz unauffällig an der Polizei vorbeigeschluppt.

Erst während des Studiums, wenn ich im Ausland unterwegs war, ist mir Polizei richtig bewusst geworden. Ich habe viel in der arabischen Welt gearbeitet, wo Polizei in jeder Beziehung viel präsenter ist und an jeder Kreuzung zum Teil mit automatischen Waffen steht. Und auch viel schneller aktiv wird. Dadurch hat sich mein Blick auf die Polizei verändert und ich habe gemerkt, wie gut es uns hier mit unserer Polizei geht.

Wie landet man auf den Spuren von Indiana Jones auf der Suche nach historischen Kulturschätzen auf einmal bei der Polizei?

So weit voneinander entfernt sind Archäologie und Polizei eigentlich gar nicht. Ich habe gelernt, Spuren zu verfolgen und Dinge herauszufinden von Menschen, die seit 5000 Jahren tot sind. Und die Polizei macht das nicht viel anders bei Leuten, die noch leben oder frisch abgelebt sind. Ich habe auch darüber unterrichtet, wie man schnell Tatort-Aufnahmen machen kann, wie wir Archäologen an Fundorten schnell Zeichnungen machen, welche technischen Hilfsmittel es gibt. Das ist auch für Polizisten sehr wichtig und interessant.

Ihre Fachgebiete waren das Altertum in Griechenland, Ägypten oder Rom, was prädestiniert einen Archäologen für ein Polizeimuseum?

Salopp gesagt: Für diesen Archäologen, also für mich, bedeutet es, dass er Erfahrungen in der Polizei und im LKA sowie in der Polizeiausbildung hat, die administrative Struktur kennt und weiß, mit historischen Vorgängen und Kulturgut umzugehen.

Ist das Polizeimuseum das Ende Ihrer wissenschaftlichen Arbeit?

Ich bin jemand, der immer guckt, wie kann man das Neue, das einem begegnet, gut weiter kombinieren. Für mich hat sich durch die Polizei ein neues Forschungsfeld aufgetan, der Kulturgüterschutz. Das ist ein Feld, das nach BKA-Statistik zu den Top 3 der illegalen Umsätze und kriminellen Geschäfte weltweit gehört. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, wie illegal ausgegrabene Kulturgüter veräußert werden, wo sie landen, wie mit ihnen umgegangen wird. Damit habe ich eine wunderbare Schnittstelle zwischen Polizei und Archäologie im Sinne der Forschung. Das bringt mich auch persönlich unheimlich weiter, weil das in der Archäologie noch relativ unerforscht ist. Daran forsche ich bis heute und entwickle dort meinen neuen Forschungsschwerpunkt.

Warum braucht die Welt eigentlich ein Polizeimuseum?

Weil Polizei etwas ganz Spannendes ist. Um Polizeiarbeit heute zu begreifen, muss man verstehen, wo kommt sie her, was ist ihre Funktion und wie entwickelt sich Polizei. Es läuft ja nicht immer alles glatt und richtig. Um das zu korrigieren, muss man sich die Geschichte anschauen und erkennen, wo die Fehler lagen. Außerdem haben wir die Chance, Polizei und Polizeiarbeit allen Leuten näherzubringen, die ihr eigentlich kritisch gegenüberstehen. Wir können schon Kinder dafür begeistern. Und drittens sitzen wir in der Polizeiakademie und können allen angehenden Beamten und Beamtinnen zeigen, wie eigentlich ihre Berufsgeschichte ist.

Soll das Museum helfen, das durch Vorurteile aber auch durch Fehler und Übergriffe lädierte Image der Polizei aufzupolieren?

Das ist absolut so und gewollt. Die Basis des Museums sind nicht nur die Ausstellungsstücke, sondern auch die Menschen, die hier arbeiten. Wir haben 60 ehrenamtliche Mitarbeiter, fast alles ehemalige Polizisten. Die erzählen natürlich aus ihrem Beruf, aus ihrem Alltag auf der Straße und sind in der Lage, im kritischen Gespräch auch mal ihre persönliche Gegenseite zu spiegeln.

Profitiert das Museum vom True-Crime-Boom, und ist das nicht der eigentliche Grund für das große Interesse?

Ich glaube, wir sind glückliche Nutznießer dieses Booms, und ich will mich nicht darüber beschweren, wenn uns Leute deswegen gern besuchen. Aber wir sind aktuell auch das größte Polizeimuseum in Deutschland und können überall mitspielen, weil wir eine unheimlich hochwertige Ausstellung zu bieten haben.

Und wenn sich zum Beispiel Schüler vor allem für den Grusel und Horror etwa des Frauenmörders Honka oder des Ölfassmörders interessieren, nicht aber für die Ermittlungsarbeit der Fahnder?

Das kommt natürlich vor. Aber dann wird der Gruselfaktor mit der Realität gemischt, und es wächst oft die Erkenntnis, was eigentlich hinter den Fällen steckt. Zum Beispiel, weil wir hier Kollegen und Kolleginnen haben, die bei einigen der Fälle selbst noch mit im Einsatz waren oder wir Originalermittler dazu holen. Meistens öffnet diese Realität dann viel mehr die Augen als der Grusel der Honka-Säge.

Wie selbstkritisch kann oder muss vielleicht sogar ein Polizeimuseum mit der Polizeiarbeit umgehen?

Ein Museum muss immer kritisch sein, das hat nichts mit Polizei zu tun. Ein Museum muss jedes Objekt in seinem Besitz im kulturwissenschaftlichen Kontext beleuchten und von allen Seiten betrachten. Nicht nur eine Meinung vorgeben, wie wir das zurzeit in der Kolonialdebatte vieler herkömmlicher Museen leider noch erleben. Den Fehler dürfen wir nicht machen. Unsere Fälle und Beispiele sind sehr kritisch aufgearbeitet, das ist der Verdienst der Kollegen, als ich noch gar nicht dabei war. Wir müssen die Kritik mitbringen, sonst wäre es ein reines Stück Polizei-Lyrik und hätte nicht den Wert, wie wir ihn bei unseren Besuchern wahrnehmen können.

Welche historischen Schätze haben Sie denn schon in Kellern und Archiven Ihres neuen Arbeitsplatzes entdeckt?

Es gibt ganz viele Schätze, und vielleicht folge ich dabei dann doch meinem Archäologen-Blick. Ich lese gern alte Schriftstücke, und wir haben eine ganze Menge handschriftlicher Notizen und Dokumente aus vergangenen Zeiten, die einem plötzlich etwa die Lebenswelt eines Polizeibeamten der 1920er Jahre eröffnen. Oder eine Strafakte aus der Zeit, um nachvollziehen zu können, wie es denen damals so erging. Mich reizen eben kulturwissenschaftliche Einblicke, die Lebensgeschichten erzählen.

Das Museum soll stärker in die Ausbildung der Polizeiakademie integriert werden. Wo gibt es denn Parallelen zwischen der Lehre von Altertümern und der Lehre von der Polizeiarbeit?

Zunächst einmal in der grundsätzlichen Methodik: Wie gehe ich an ein Objekt ran und wie bewerte ich es. Gerade in der Methodik ist das historische Arbeiten an Quellen und das Erarbeiten eines Sachverhaltes durch Ermittler heute nicht weit voneinander entfernt. Bei historischer Forschung ist Quellenkritik selbstverständlich, wir müssen bestimmte Fragen beantworten, zum Beispiel ob die Quelle authentisch ist oder nur irgendwelcher Schwachsinn.

Das gleiche muss bei einer Zeugenbefragung auch geschehen. Es muss überprüft werden, wie viele Indizien tatsächlich einen bestimmten Rückschluss begründen lassen oder die Rekonstruktion eines alten Falles ermöglichen. Da sind Polizeiermittler und Archäologen in der Forschungsmethodik unheimlich dicht beieinander.

Gibt es Anpassungsherausforderungen als Zivilist an der Spitze einer Polizeidienststelle?

Es sind schon zwei verschiedene Welten, der Polizeiapparat mit dem Handwerk des Alltags und die akademische Wissenschaft. Tatsächlich gehöre ich zu den Wissenschaftlern, denen man nachsagt, dass ich viel Stallgeruch habe. Gerade weil ich vorher in verschiedenen Bereichen des LKA und der Akademie der Polizei tätig war. Ich kenne die Strukturen, kann mitreden, wenn es um bestimme Herangehensweisen geht. Aber ich merke auch, dass ich an einigen Stellen einen sehr akademischen Ansatz habe und wir uns einander alle noch etwas anpassen müssen.

Müssen Sie eigentlich manchmal Uniform tragen?

Nein, ich muss keine Uniform tragen, sonst hätte ich den Job auch nicht gemacht. Ich bin kein Polizeibeamter und will nichts vorgaukeln, was ich nicht bin. Und Waffen trage ich erst recht nicht. Für mich gilt: Wissen ist Macht und Sprache ihre schärfste Waffe.

Bitte ergänzen Sie...

Kriminalromane und Detektivgeschichten finde ich... öde.

„Tatort“-Zeit am Sonntag bedeutet mir... nichts, Krimis finde ich stinklangweilig.

Die „Indiana Jones“-Filme... habe ich alle gesehen. Die ersten drei sind eine Art Pflichtlektüre für Archäologen mit super tollen Storys. Der vierte dann nicht mehr. Man sollte aufhören, alte schöne Filme immer wieder neu auflegen zu wollen.

Wenn ich mich nicht mit Mord und Totschlag beschäftige... fahre ich gerne Fahrrad, das entspannt mich im Kopf. Ich bin letztes Jahr mit meinem kleinen Falt-Fahrrad über die Alpen gefahren. Oder ich lese gern alte Reisebeschreibungen oder historische Bordbücher. Ich liebe es, mit James Cook oder Kolumbus unterwegs zu sein, das finde ich wahnsinnig spannend.

Meine Wissenschaftskollegen fanden meinen Wechsel... skurril bis spannend.

Das Verbrechen, das mich am meisten berührt... gibt es so nicht. Tatsächlich sind es eigentlich die Erfahrungen aus der Weimarer Zeit, die mich berühren, weil das verglichen mit heute alles ganz fremd erscheint. Die Menschen haben mit viel weniger Ausbildung sehr viel geleistet und für viele moderne Arbeitsbereiche die Grundlage gelegt.

Zur Person

Seine Profession ist eigentlich die Suche nach jahrtausendealten Kulturschätzen zum Beispiel des alten Ägypten oder aus der römischen Kaiserzeit, mit Abenteuern so wie sie sonst der Filmheld „Indiana Jones“ auf der Kinoleinwand erlebt. Ziemer ist Anfang 1983 in Köln geboren, aber schon mit drei Jahren mit seinen Eltern an die Elbe gezogen. Er hat an der Hamburger Universität Archäologie studiert und dort 2016 auch promoviert: über die „Stationen der römischen Fernhandelswege in der Ostwüste Ägyptens“. Bis heute hat er zur Uni enge Kontakte und ist dort in „den alten Fachbereichen unterwegs“, sagt er.

Ab 2011 war er als wissenschaftliche Hilfskraft der Wissenschaftlichen Akademie zu Göttingen für Ägyptologie am Standort Hamburg und ab 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der klassischen Archäologie an der Universität. Nach Ablauf seines wissenschaftlichen Zeitvertrages wechselte er 2018 zur Polizei, wo er im LKA kurz in verschiedenen Computerbereichen arbeitete und dann in die Lehre an die Akademie der Polizei versetzt wurde.

Seit Anfang 2022 leitet er als erster Zivilist das Polizeimuseum. Bis heute ist er aber auch noch regelmäßig in seinem alten Metier unterwegs, zum Beispiel für das Deutsche Archäologische Institut Kairo zu Ausgrabungen. Außerdem ist er Vorsitzender der Deutschen Seemannsmission Hamburg-Altona, bei der er seit über 20 Jahren, anfangs als Zivildienstleistender, engagiert ist.

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