TOpfer des Rassenwahns: Nazis töteten in Lüneburg mindestens sechs Kinder aus Jork

Ein Bild aus der Ausstellung „Im Gedenken der Kinder“ im NS-Dokumentationszentrum „Topographie des Terrors“ in Berlin. Foto: Maurizio Gambarini dpa/lbn
Schüler der Oberschule Jork erforschen den systematischen Mord an Menschen mit körperlichen und psychischen Krankheiten durch die Nationalsozialisten. Kinder aus Jork starben im Zuge der NS-Kinder-Euthanasie. Die Schule plant eine Ausstellung.
Jork. Die Geschichtswerkstatt der Oberschule in Jork beleuchtet in diesem Jahr auch die Ermordung von 200.000 Menschen mit körperlicher, mit geistiger oder mit seelischer Behinderung, die 1940 bis 1945 von den Nationalsozialisten unter anderem im Zuge der Aktion T4 nach der Leerung vieler Heil- und Pflegeanstalten systematisch mit Gas oder Medikamenten wie Luminal umgebracht wurden.
Sechs Kinder aus Jork sind im Zuge der Kinder-Euthanasie in Kinderfachabteilungen psychiatrischer Anstalten ermordet worden, fünf von ihnen in der Heil- und Pflegeanstalt Lüneburg.
Altländer besuchen Gedenkstätte in Lüneburg
Mit ihren Lehrern Alexander Schumacher und Michael Hackbarth sowie dem Lokalhistoriker Michael Quelle haben die Schüler deshalb die Euthanasie-Gedenkstätte der Psychiatrischen Klinik in Lüneburg besucht. Die 1901 eröffnete Heil- und Pflegeanstalt war mit ihrer parkähnlichen Anlage einst eine Vorzeigeeinrichtung gewesen.
Psychisch kranke Patienten durften sich frei bewegen, es gab Arbeitstherapie. Kurz nach der Machtübernahme erließen die Nazis im Juli 1933 das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Auf dieser Grundlage wurden 400.000 Menschen zwangssterilisiert, mehr als 700 allein im Kreis Stade. Danach folgte das Morden. Das altgriechische Wort Euthanasie bedeutete eigentlich schöner Tod. Nationalsozialisten nutzten ihn als Umschreibung der systematischen, brutalen Ermordung von Menschen, die nach dem NS-Rasse-Ideal als lebensunwert galten. Im vertraulichen Runderlass des Reichsinnenministeriums vom 18. August 1939 wurden Ärzte und Hebammen verpflichtet, Kinder mit schweren, angeborenen Leiden zu melden.

Schüler der Oberschule Jork vor der Euthanasie-Gedenkstätte auf dem Gelände der heutigen Psychiatrischen Klinik in Lüneburg, Antje Pauleweit (Mitte) von der Gedenkstätte gibt einen Überblick. Foto: Vasel
Im Oktober 1939 erteilte der Diktator Adolf Hitler den Mordbefehl. Ein „Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung von erb- und anlagebedingten schweren Leiden“ wurde eingerichtet. Dieser hatte seinen Sitz in der Tiergartenstraße 4 in Berlin. Deshalb heißt es Aktion T4. In Lüneburg fielen dem Morden 425 von 727 Kindern und Jugendlichen zum Opfer. Mehr als 300 wurden hier mit Medikamenten getötet, die anderen hätten die Ärzte und Pfleger verhungern lassen. Die Gehirne wurden für die Forschung der Universität Hamburg präpariert - auch das des zwölfjährigen Helmut Quast aus Jork. Das geht es aus dem Sektionsbuch von 1941 bis 1944 hervor. Die Präparate von zwölf Kindern sind erst im August 2013 bestattet worden.
Helmut Quast aus Jork wurde in Lüneburg ermordet
Die Altländer werden sich bei dem Projekt auch mit Quast beschäftigen. Der Bauernsohn war 1930 in Neuenfelde auf die Welt gekommen. Er ging in Estebrügge und Borstel zur Schule, Lehrer nannten ihn Störenfried. Nach der Diagnose Schwachsinn durch den Amtsarzt des Kreis-Gesundheitsamtes Stade wurde er 1938 in den Rotenburger Anstalten aufgenommen, wo er die Anstaltsaushilfsschule besuchte. Die Lehrer hätten ihn wieder nach Hause geschickt.
Doch Ärzte meinten, dass er als Bettnässer hier besser aufgehoben sei. Mit dem Transport vom 9. Oktober 1941 wurde Quast mit mehr als 120 Kindern nach Lüneburg verlegt. „Dort starben rund 60 Prozent in den ersten Wochen und Monaten“, sagt die Historikerin Dr. Carola Rudnick. Im Februar 1942 erhielt die Mutter ein Schreiben. Ihr Sohn sei an einer Lungenentzündung erkrankt, sei Zustand sei „nicht unbedenklich“. Sie besuchte ihn am 27. Februar. Sie sah ihren Sohn nie wieder. Helmut Quast starb am 1. März 1942 - ermordet vermutlich mit dem Schlafmittel Luminal. Anstaltsarzt Dr. Willi Baumert notierte „kruöse Lungenentzündung links“.

Schüler erforschen in der Gedenkstätte die Biografien von Opfern des Nationalsozialismus. Foto: Vasel
In Lüneburg widmeten sich die Schüler Felix, Leon, Zyg, Max und Christian der Baumert-Akte. Der Arzt war Mitglied der NSDAP und der Waffen-SS. Im September 1941 wurde der Obersturmbannführer in die Reichskanzlei einbestellt. Er wurde gefragt, ob er statt des Frontdienstes lieber Euthanasie-Maßnahmen - für die Forschung - an Kindern durchführen wollte. Baumert nahm den Auftrag an und wurde erster Leiter der Kinderfachabteilung Lüneburg, so Antje Pauleweit von der Gedenkstätte. Kinder, die er als nicht bildungs- und entwicklungsfähig einstufte, waren dem Tode geweiht. Der Reichsausschuss erteilte eine Behandlungsermächtigung durch Einschläfern.
„Dass er kein Unrechtsbewusstsein hatte, ist schon schockierend“
Baumert behauptete nach dem Krieg, er habe lediglich Tötungsbefehle umgesetzt. Er habe geglaubt, das sei rechtlich zulässig. Im Entnazifizierungsverfahren wurde er als Mitläufer eingestuft, ab 1953 arbeitete er wieder im öffentlichen Dienst - erst als Oberarzt, später als Ärztlicher Direktor des Landeskrankenhauses Königslutter. Bei der Wiedereinstellung wurde er gefragt, ob er etwas mit der Euthanasie zu tun gehabt habe. Das verneinte er. „Dass er kein Unrechtsbewusstsein hatte, ist schon schockierend“, sagt Leon.
Die Schüler planen eine Ausstellung ihrer Geschichtswerkstatt zur NS-Zeit. Diese wird am 28. Mai, 12 Uhr, im Museum eröffnet. Die Ergebnisse ihrer Recherchen sind bis zum 16. Juni zu sehen. Übrigens: Erst 1962 gestand Baumert seine Beteiligung - ohne Folgen. 1966 wurden die Ermittlungen wegen seines schlechten seelischen Zustandes eingestellt. Er starb 1984 im Alter von 75 Jahren.