TWie eine Horneburgerin jahrelang für ihren behinderten Onkel Rudi kämpfte

Mit Kapitänsmütze und Schmuck, so erkannten die Leute auf der Straße Rudi Dern (links) sofort (hier bei einem Ausflug mit seinem Bruder Karl Dern und Rita Feinkohls Schwester). Foto: privat
55 Jahre lang lebte Rudi Dern in der geschlossenen Psychiatrie. Rita Feinkohl lernte ihren Onkel erst spät kennen, schloss den Mann mit der Kapitänsmütze jedoch sofort ins Herz. So kämpfte sie für Rudis Würde.
Bliedersdorf. Ketten, Ringe und Broschen, dazu eine Kapitänsmütze: Das waren Rudi Derns Markenzeichen. Rita Feinkohl aus Bliedersdorf hat ihren Berliner Onkel genau so auf der Geburtstagsfeier ihres Vaters kennengelernt. In ihrem Buch „Ick dank dir och schön!“ schildert sie, wie sie dafür kämpfte, dass ihr Onkel nach 55 Jahren Aufenthalt in der geschlossenen Psychiatrie wieder Freude am Leben fand.
„Tach och! Ick bin der Rudi!“ Das waren die ersten Worte, mit denen Rita Feinkohl damals von ihrem Onkel begrüßt wurde. Es war ihre erste Begegnung mit Rudi Dern, denn in ihrer Familie habe ihr zuvor noch niemand von einem schwerbehinderten Onkel aus Berlin erzählt. Rudi Dern hatte eine mittelgradige geistige Behinderung, eine Defektschizophrenie und war Epileptiker. Doch sie habe den Mann mit der Schmolllippe und dem wackeligen Gang sofort in ihr Herz geschlossen, sagt Rita Feinkohl. Doch damit stand sie scheinbar alleine da. Denn seine übrigen Geschwister hätten sich auf der Feier distanziert zu ihrem Bruder gezeigt. „Man merkte, wie unangenehm es ihnen war, in seiner Nähe zu sein“, erinnert sie sich.
55 Jahre in einer geschlossenen Psychiatrie
Während der Feier sei sie mit ihren Onkel ins Gespräch gekommen. „Keine einfache Sache“, sagt Rita Feinkohl. „Er hatte neben seinem Berliner Dialekt auch eine ganz eigene Art zu sprechen, die ich über Jahre hinweg erst lernen musste.“ „Rudisch“ nennt sie es in ihrem Buch, eine Mischung aus eigenen Wortkreationen in Verbindung mit eigentümlichen Gesten. „Eine Büchse mit Schnee“ stehe etwa für schokoüberzogenes Waffelgebäck, das man auf dem Jahrmarkt bekommt. Rita Feinkohl bekam von ihrem Onkel auch einen neuen Namen. „Er nannte mich meist Edith. Oder Mama“, sagt sie.
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Rudi Dern wuchs in Berlin während des Zweiten Weltkriegs mit 15 Geschwistern in einer Schaustellerfamilie auf. Mit acht Jahren verletzte er sich kritisch während eines Bombenangriffs. Nach jahrelangen Untersuchungen wurde er mit zwölf Jahren dauerhaft in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert - wo er 55 Jahre lang blieb. Als Rita Feinkohl Rudi erstmals in Berlin besuchte, habe sie gesehen, unter welchen katastrophalen Umständen ihr Onkel dort lebte. „Es war menschenunwürdig“, sagt sie. Als sie später als seine gesetzliche Betreuerin einen Berg von Krankenakten erhielt, sei ihr erst bewusst geworden, was ihr Onkel alles erleiden musste.

Rita Feinkohl (rechts) schrieb ihre Erfahrungen in einem 22-tägigen Schreibmarathon nieder. Ihre Tochter Jasmin Feinkohl (links) unterstützte sie bei diesem Herzensprojekt. Foto: Buchmann
Ab dem Besuch in Berlin habe sich Rita Feinkohl mit aller Kraft dafür eingesetzt, ihrem Onkel ein besseres Leben zu ermöglichen. „Ich habe alles dafür getan, ihn aus diesem Loch rauszuholen“, sagt sie. Sie habe den Onkel gemeinsam mit ihrer Tochter Jasmin regelmäßig besucht, habe Ausflüge mit ihm unternommen, ihm neue Kleidung gekauft. Doch auch die Pflege des alten Mannes blieb auf der Strecke, sagt Feinkohl. „Er wurde dort oft sich selbst überlassen“, sagt sie weiter. „Oft war er ungewaschen und im Schlafanzug, wenn wir zu Besuch kamen.“ So sei in ihr der Entschluss gereift, ihren Onkel aus diesem „Verein“ herauszuholen.
„Das war es wert“
Nach langem Hin und Her schaffte es Rita Feinkohl schlussendlich, ihren Onkel zu sich nach Bliedersdorf zu holen. Doch im Landkreis Stade ging die Odyssee weiter. Probleme mit Pflegeheimen und Behörden häuften sich, zwischenzeitlich lebte Onkel Rudi auch über mehrere Jahre bei ihr zu Hause. „Ich hatte nie etwas mit Alten- oder Krankenpflege am Hut, ich musste mir vieles selbst beibringen“, sagt sie. Das hätte an ihr gezehrt, sie körperlich wie finanziell an ihre Grenzen gebracht. Doch letztlich habe sie es geschafft, für Rudi ein lebenswertes Umfeld aufzubauen. „Das war es wert, ich würde es definitiv wieder machen“, sagt Rita Feinkohl heute.
In der Zeit mit ihrem Onkel habe Rita Feinkohl einen Einblick in seine Welt bekommen, der sie bis heute prägt. Und jeder Ausflug mit ihm, etwa auf den Weihnachtsmarkt oder den Jahrmarkt, sei ein besonderes Erlebnis gewesen. „Alle hier kannten ihn“, erinnert sich Rita Feinkohl. Knapp sieben Jahre nach dem Tod des Onkels 2014, habe sie beschlossen, gemeinsam mit ihrer Tochter die gesammelten Erfahrungen niederzuschreiben. „Meiner Mutter war es wichtig, mit ihrer Geschichte den Menschen Mut zu machen“, sagt Tochter Jasmin Feinkohl. Ein besonderer Moment sei für Rita Feinkohl der Abschied von ihrem schwer kranken Onkel gewesen. „Rudi weinte bei unserem letzten Treffen“, erinnert sich Rita Feinkohl. „Das hatte er zuvor nie getan.“
Die Autobiografie „Ick dank dir och schön“ ist im Buchhandel und ab Dezember im HERO-Shop von Sens & Feinkohl (www.hero-im-herzen.de) erhältlich.