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Norddeutschland

TAls Kind ging sie durch die Hölle - Heute ist sie der Fels für Kinder

Im Haus der Familie Fiebig ist immer etwas los. Nicole Fiebig ist Pflegemutter. Damit alle Mitglieder miteinander klarkommen, gibt es ein paar Regeln, an die sie sich halten müssen.

Im Haus der Familie Fiebig ist immer etwas los. Nicole Fiebig ist Pflegemutter. Damit alle Mitglieder miteinander klarkommen, gibt es ein paar Regeln, an die sie sich halten müssen. Foto: Krabbenhoeft

Als Kind erlebte Nicole Fiebig in ihrer Familie die Hölle. Heute nimmt sie Kinder zu Hause auf. Sie hat einen Verein gegründet, der Pflegeeltern unterstützt.

Von Sabrina Krabbenhoeft Montag, 15.12.2025, 09:50 Uhr

Nordenham. Im Juli 2019 ist die Nordenhamerin Nicole Fiebig zu Gast bei Franziska Giffey in Berlin. Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend arbeitete derzeit an der Reform des Kinder- und Jugendhilferechts und will dazu die Meinung der jungen Frau hören. Wie es dazu kam, ist ausgesprochen ungewöhnlich.

Nicole Fiebig ist ein ehemaliges Pflegekind und heute selbst Pflegemutter. Sie schrieb ein Buch über ihre Geschichte, das gelangte in die Hände der Politikerin. Die geschilderten Erlebnisse lassen Franziska Giffey aufhorchen. Sie zeigen, wie ein Mensch, der die Hölle erlebt hat, sein Leben in die Hand nimmt, um die Welt zu verändern.

Gewalt und Missbrauch bestimmen die frühen Jahre

Nicole Fiebig wird in Westerstede geboren. Ihre Mutter lebt mit einem neuen Mann zusammen, der erst kürzlich eine achtjährige Haftstrafe für Körperverletzung mit Todesfolge abgesessen hat. Er vergeht sich sexuell über Jahre an dem Kleinkind. Erst 1990 wird er wegen schwerer Körperverletzung angezeigt und kommt vor Gericht. Mit sechs kommt Nicole Fiebig in ein Heim für schwer erziehbare Kinder. Zwei Jahre später wird sie in eine Pflegefamilie aufgenommen.

Als das Kind elf Jahre alt ist, ändern sich die Umstände und ihre Patentante bietet an, sie aufzunehmen. Doch auch im neuen Zuhause herrscht die Gewalt. Mit 16 Jahren ruft das junge Mädchen beim Jugendamt an und verlangt, dass sie aus der Familie herausgeholt wird.

Sie schließt eine Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin ab, bald folgt eine Umschulung zur Tagesmutter. 2010 lernt sie ihren heutigen Mann kennen und zieht zu ihm nach Nordenham. Mittlerweile hat Nicole Fiebig mehr als 35 Pflegekindern zeitweilig als Bereitschaftspflegemutter versorgt und betreut. Sie hat zwei eigene Töchter.

Gegen Wutausbrüche hilft kein starres Regelwerk

Begonnen hat diese Lebensaufgabe mit der spontanen einjährigen Aufnahme des Sohnes ihres Cousins. Als der Junge zurück zur Mutter geht, fragt das Jugendamt an, ob Nicole Fiebig in die Bereitschaftspflege einsteigen will - die kommt zum Einsatz, wenn es in einer Familie kracht und das Kind sofort aus dem Umfeld herausgeholt werden muss. Die Aufenthaltsdauer in der Bereitschaftsstelle kann von ein paar Stunden bis mehrere Jahre dauern.

Nicole Fiebig absolviert die Ausbildung zur kirchlichen Heimerzieherin, mit Schwerpunkt Erlebnispädagogik. Sie nimmt zunächst Jungen und Mädchen von null bis 18 Jahre auf. Mit der Zeit entsteht eine klare Vorstellung, was sie und ihre Familie leisten können und was nicht.

Da ist ein kleines Mädchen, das etwa 40-mal am Tag einen Wutausbruch hat. Sie verwüstet ihr Zimmer, versucht die Hunde zu treten und geht mit einem Messer auf ihre Pflegemutter los. „Für Kinder, die gerade ihr Zuhause verloren haben, kann kein starres Regelrepertoire aufgestellt werden. Sie haben sich so entwickelt, weil es für sie überlebenswichtig war. Die Baustelle ist nicht, dass sie beim Essen rumschmieren oder schreien, sondern, dass sie erstmal merken müssen, dass sie in Sicherheit sind. Ich habe ihr gesagt, ich verstehe ihre Wut, aber wir müssten daran arbeiten, wie sie damit umgeht“, erklärt Nicole Fiebig.

Zusammen mit dem Kind erstellt sie einen Wutkalender, in den es, aufgeteilt in drei Symbole, einträgt, wie weit es gelingt, das Gefühl zu kontrollieren, ohne andere zu gefährden. Die Frustrationstoleranz des Kindes nimmt schnell zu.

Pflegekinder sind und bleiben Teil der Familie

2023 beginnt Nicole Fiebig eine Ausbildung zur Trauma-Pädagogin, die kurz vor dem Abschluss steht. Zu ihrer Erfahrung gehört, dass manche Kinder sich in einer Einrichtung besser fühlen und nicht jedes in ihre Familie passt. „Kinder brauchen das Gefühl von Verbindung. Sie müssen ein System entwickeln, wie sie miteinander umgehen können“, sagt die 39-Jährige. Ein Supervisor steht ihr bei Fragen zur Seite.

Ein Mädchen wohnt seit fünf Jahren bei den Fiebigs. Gerade macht sie eine Ausbildung und möchte bis zu deren Ende noch bei ihrer Pflegefamilie bleiben. „Sie möchte langsam ins Leben entlassen werden, nachholen, was zu Hause nicht gelehrt wurde“, sagt ihre Pflegemutter. Auch nachdem die Kinder die Familie verlassen haben, können sie weiterhin zu Besuch kommen. Einige feiern gemeinsam mit den Fiebigs Weihnachten, andere kommen am Muttertag vorbei.

Im Landkreis werden Pflege- und Bereitschaftseltern gesucht. Nicole Fiebig ist 1. Vorsitzende des Vereins der Pflege- und Adoptivfamilien Oldenburg (Pevol). Die Gruppe trifft sich einmal im Monat in den Räumen der BeKos in Oldenburg. Interessierte können sich melden und unverbindlich beraten lassen: kontakt@pevol.de, Tel. 0151-4 00 622 49. Der Verein ist spendenfinanziert: LzO, IBAN: DE03 2805 0100 0090 9110 17.

Jedes Kind hat das Recht auf gewaltfreie Erziehung – bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung sollte das Jugendamt eingeschaltet werden.

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