TAls der Massenmörder Heinrich Himmler in den Tod floh

SS-Chef Heinrich Himmler (3. von links) hier 1939 neben Adolf Hitler. Himmler wurde in seiner Rolle als Reichsführer SS zum „Henker Europas“. Foto: imago/Cinema Publishers Collection
Am 23. Mai 1945 begeht Reichsführer SS Heinrich Himmler in Lüneburg Selbstmord. Der Suizid ist das letzte Kapitel seiner Flucht, die den schlimmsten Massenmörder der Geschichte auch in den Kreis Rotenburg führt.
Lüneburg/Zeven. Im Landkreis Rotenburg wird er vor genau 80 Jahren, am 21. Mai, von Alliierten festgenommen und enttarnt. Wo genau, darüber gibt es bis heute verschiedene Theorien.
Verbissen hält Heinrich Himmler an seiner Macht fest. In seiner Verzweiflung lässt er sich 1944 sogar von einem Astrologen beraten. Noch zum Ende des Zweiten Weltkrieges versucht er, Verbündete unter den Alliierten zu finden. Währenddessen werden mittlerweile Kinder der Hitlerjugend und alte Männer in den aussichtslosen Krieg geschickt. Für seinen Hochverrat wird er von Diktator Adolf Hitler bestraft. Am 28. April wird Himmler aus allen Ämtern entlassen; gegen ihn wird ein Haftbefehl erlassen.
Suizid, Tod im Kampf oder in Gefangenschaft kommen für den einst mächtigen Mann nicht infrage. Dennoch ist er – wie alle NS-Führer – mit einer Zyankalikapsel ausgerüstet. Ohne sein Amt und mit den Alliierten vor der Tür bleibt ihm keine andere Option als die Flucht aus Flensburg. Sie führt ihn ins Weser-Elbe-Dreieck. Die Verantwortung für den Tod von Millionen Menschen schiebt er weiterhin weit von sich.
Heinrich Himmler wird zu Heinrich Hitzinger
In einer spärlichen Verkleidung bestehend aus einer Augenklappe macht er sich am 11. Mai auf den Weg. Die Uniform legt er ab und tauscht sie gegen Zivilkleidung. Doch seine Identität will Heinrich Himmler offenbar nicht ganz aufgeben. Seinen Namen ändert er nur minimal ab, seine auffällige Brille behält er. Getarnt als Feldwebel Heinrich Hitzinger und ausgestattet mit einem gefälschten Soldbuch zieht er los. Rang und Name sollen ihm später noch zum Verhängnis werden. Ohne große Vorbereitung startet Himmler mit fünf Verbündeten seine ziellose Flucht.
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Himmler, Rudolf Brandt (persönlicher Referent Himmlers), Werner Grothmann (Adjutant), Heinz Macher (Adjutant), Heinrich Müller (Gestapo-Chef) und Josef Kiermaier (Chef von Himmlers persönlichen Sicherheitsdienst) ziehen los. Über die Anwesenheit Heinrich Müllers streitet sich die Wissenschaft. Offiziell wurde er am 1. Mai in Berlin für tot erklärt. Vom Startpunkt Flensburg fahren sie etwa 100 Kilometer in Richtung Friedrichskoog im Kreis Dithmarschen.
Das Wetter ist schlecht. An eine Weiterreise ist nicht zu denken. Erst am 15. oder 16. Mai geht es weiter. Die sechs Männer müssen zunächst die Elbmündung mit einem Fischerboot überqueren. Mehrere Kilometer fahren sie zur anderen Uferseite. Von dort geht es weiter ins niedersächsische Neuhaus an der Oste, knapp 30 Kilometer östlich von Cuxhaven.

Mittlerweile kristallisiert sich eine Route heraus. Himmler will in den Harz, um dort unterzutauchen und anschließend in die Alpen durchzukommen. Mit diesem Ziel vor Augen geht es zu Fuß weiter in die Gegend zwischen Bremervörde und Zeven. Hier trennt sich die Gruppe. Während Brandt, Müller, Kiermaier verweilen, setzen Himmler, Macher und Grothmann ihren Weg durch das heutige Niedersachsen fort. Die beiden Gruppen werden nichts mehr voneinander hören. Am 21. Mai findet die Flucht des Trios um Himmler ein abruptes Ende. Sie werden in Meinstedt aufgegriffen – oder doch nicht?
Heinrich Hitzinger mit Augenklappe gesichtet
Britische Quellen deuten darauf hin, dass Himmler und seine Begleiter in Bremervörde festgenommen werden. Und zwar am Kontrollposten „Bridge Controll 9344“, bei dem es sich um die kurz vor der Besetzung Bremervördes von deutschen Soldaten gesprengte Brücke über die Oste am östlichen Stadtrand handelt.
Und es gibt Augenzeugenberichte. Friedrich Schabel, von den Besatzungstruppen als Bürgermeister eingesetzt, sei am Abend des 21. Mai ein Mann mit schwarzer Augenklappe aufgefallen. Zwei Männer seien bei ihm erschienen – ein Major und ein Oberarzt, schildert er später. Sie hätten berichtet, dass sie einer Polizeikolonne entstammten und sich auf dem Landratsamt melden sollten, um sich dort Quartier und Verpflegung anweisen zu lassen.
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Er habe die beiden Offiziere an die Gaststätte „Tivoli“ verwiesen, sagt Schabel, und ihnen eine Anweisung über 20 Brote mitgegeben. Als der Bürgermeister mit den beiden Deutschen auf die Straße getreten sei, habe er vor der Schabbelschen Mühle die Kolonne gesehen. Da habe er den Mann mit Augenklappe erblickt.
Auch Landrat Dohrmann will eine Gruppe von drei Mann gesehen haben, von denen einer eine Augenklappe trug. Sie hätten von ihm einen Passierschein gefordert, um die Behelfsbrücke nahe der gesprengten Brücke über die Oste zu überqueren. Sie bekommen ihn nicht.
Viel mehr soll Himmler in der Folge aufgrund der Bestimmungen der „Automatic Arrest Categories“ festgenommen worden sein. Ein Protokoll, nach dem bestimmte Personen automatisch festzuhalten waren, egal, was sie getan oder nicht getan hatten. Himmlers Maskerade besiegelt sein Schicksal. Denn die „Kategorie der sofort Festzunehmenden“ beginnt für die Geheime Feldpolizei beim Feldwebel, jenem Dienstgrad, mit dem sich der Gesuchte tarnt.

Am 22. Mai 1945 wird dieser Arrestbericht für „Feldwebel Heinrich Hitzinger“ in Bremervörde ausgestellt. Fünf Jahre später wird das Dokument in der Bremervörder Zeitung veröffentlicht. Was aus dem Originaldokument wurde, ist nicht bekannt.
Folgenschwere Begegnung in Meinstedt
Die Geschichte der britischen Quellen über Himmlers Festnahme sind nur ein mögliches Szenario, wie der Kriegsverbrecher in Gefangenschaft gerät. Es werden Dokumente veröffentlicht, die die sowjetische Gegenaufklärung des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR bei der Fahndung nach Nazi-Verbrechern zusammengetragen hat.
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Sie schildern einen anderen Verlauf. Die Zeugenaussagen der beiden sowjetischen Soldaten Vasilij Gubarev und Ivan Sidorov legen nahe, dass Himmler in Meinstedt gefangen genommen werden konnte. Am Abend des 21. Mai sind Gubarev und Sidorov auf Rundgang. Sie begegnen einer Gruppe Deutschen. Das sagt Sidorov in einer Vernehmung im Juni 1945 aus.
Einer von ihnen fällt besonders auf
„Einer der Festgehaltenen [...] trug einen grauen Mantel von Offiziersschnitt, eine Zivilhose, Soldatenstiefel, einen schwarzen Hut, auf dem linken Auge hatte er eine schwarze Binde. In den Händen hielt er einen Stock, der ihm als Krücke diente. Der Mantel war bis oben zugeknöpft. Am Arm hatte er eine Uhr mit einem Kompass. Die beiden anderen trugen ebensolche Mäntel und Stiefel, hatten keine Kopfbedeckung, ihre deutschen Feldmützen hatten sie in der Manteltasche stecken.“
Wo auch immer Himmler wirklich festgenommen wurde, eines ist sicher: Er sitzt in der Falle. Himmler, einer der schlimmsten Massenmörder der Geschichte, ist gefasst. Einer der Hauptverantwortlichen des Holocausts, dem während des 2. Weltkrieges rund sechs Millionen Juden zum Opfer gefallen sind, festgenommen und enttarnt. Das personifizierte Grauen in den Händen der Alliierten.
In den folgenden Tagen wird Himmler in verschiedene Lager in Niedersachsen gebracht und verhört. Die Alliierten bringen ihn schließlich an den Ort, an dem er seine Identität preisgeben und den er nicht wieder lebend verlassen wird.
Lüneburg wird Endstation für den Henker Europas
Britische Soldaten übergeben ihn in Lüneburg an einen Arzt. Dieser untersucht ihn auf versteckte Objekte am oder im Körper. Beim Blick in den Mund blitzt ein kleiner blauer Gegenstand auf. Der Arzt schaltet schnell und versucht, Himmler den Gegenstand aus dem Mund zu ziehen. Noch bevor Himmler auf die Kapsel beißt, weiß der Arzt, dass es vorbei ist. Geruch von Zyankali steigt in die Luft. Um 23.04 Uhr wird er für Tod erklärt. Den Henker Europas hat sein Schicksal ereilt.