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35 Jahre Mauerfall

TAngst und Überwachung in der DDR: Zeitzeugen teilen böse Erinnerungen in Harsefeld

Cornelia Ogilvie war das jüngste von sechs Kindern.

Cornelia Ogilvie war das jüngste von sechs Kindern. Foto: Laudien

Abgehörte Telefonate, Drohungen und ein Leben wie im Gefängnis - die Schilderungen von drei Zeitzeugen in der voll besetzten Kirche gingen unter die Haut.

Von Susanne Laudien Sonntag, 10.11.2024, 11:59 Uhr

Harsefeld. Am Sonnabend jährte sich der Mauerfall zum 35. Mal. Anlass für die evangelische Kirche in Harsefeld, an den 9. November 1989 zu erinnern. „Schon damals haben sich viele in einer Kirche getroffen und friedlich für Frieden und Freiheit demonstriert“, sagte Dominik Steinbeißer, Mitarbeiter bei Bibel-TV, der mit seiner Familie in Harsefeld lebt und ehrenamtlich den Mauerfall-Abend moderierte.

Wie betroffene Bürgerinnen und Bürger in der DDR den Fall der Mauer erlebten, die mit Stacheldraht, Selbstschussanlagen und Soldaten mit Schießbefehl bewacht wurde, schilderten eindrucksvoll das Ehepaar Elke und Wolfgang Breithaupt aus Halle (Saale) und Cornelia Ogilvie aus Schwerin. „Bei der Mitteilung im Radio sind wir in Tränen ausgebrochen“, sagte die 79-jährige Elke Breithaupt. Die jahrelange Last von permanenter Angst, Unsicherheit, Überwachung und Freiheitsberaubung hatte endlich ein Ende.

Zeitzeugen: Cornelia Ogilvie (links) sowie Elke und Wolfgang Breithaupt berichten in der Harsefelder Kirche vom Schrecken-Regime in der DDR.

Zeitzeugen: Cornelia Ogilvie (links) sowie Elke und Wolfgang Breithaupt berichten in der Harsefelder Kirche vom Schrecken-Regime in der DDR. Foto: Laudien

Berührende Schilderungen aus der Jugendzeit

Ergreifend schilderten sie und ihr 75-jähriger Ehemann, wie sie die Zeit von ihrer Kindheit bis nach der Wende mit Diskriminierung als „Ossis“ erlebten. Sie waren nicht bei den Pionieren und auch nicht in der FDJ, der Freien deutschen Jugend, eine in der DDR staatlich anerkannte und geförderte Jugendorganisation. Dennoch schaffte es Elke Breithaupt, auf ein Gymnasium zu gehen und zu studieren. Später wurde sie Kantorin und Religionspädagogin.

Die Harsefelder Kirche war beim Mauerfall-Abend gut besetzt.

Die Harsefelder Kirche war beim Mauerfall-Abend gut besetzt. Foto: Laudien

„Erinnerst du dich noch an den Bau der Mauer 1961?“, fragte Dominik Steinbeißer den 75-jährigen Wolfgang Breithaupt. „Ich war elf Jahre alt und es war in der Familie ein Thema.“ Breithaupt ist als Pfarrerskind aufgewachsen. Auch er war nicht in der FDJ. „Ich musste ständig überlegen, was ich sagen darf und was nicht“, erinnert sich Breithaupt. Später arbeitete er als Pfarrer nahe der innerdeutschen Grenze. „Das war lebensgefährlich mit der Stasi.“ Das Ministerium für Staatssicherheit, kurz Stasi, war in der DDR zugleich Geheimdienst und Geheimpolizei und fungierte als repressives Regierungsinstrument der SED.

Stasi traktierte den Pfarrer mit Drohungen

„Es war für mich vor allem gefährlich, weil ich im engen Austausch mit einem katholischen Pfarrer war. Ich bekam Drohungen von der Stasi.“ Politische Untergrundtätigkeiten wurden ihm vorgeworfen. Auch feindliche Verbindungen zu staatlichen Stellen, Menschenhandel und Liebesverbindungen in den Westen gehörten zu den üblichen Vorwürfen der Stasi.

Reisen gab es für das Ehepaar Breithaupt nur an die Ostsee oder ins Erzgebirge.

Reisen gab es für das Ehepaar Breithaupt nur an die Ostsee oder ins Erzgebirge. Foto: Laudien

Erzgebirge oder wie hier an der Ostsee - das waren die Reiseziele für Wolfgang und Elke Breithaupt

Erzgebirge oder wie hier an der Ostsee - das waren die Reiseziele für Wolfgang und Elke Breithaupt Foto: Laudien

„In der Weihnachtszeit habe ich eine Kiste mit Apfelsinen für den Seniorenkreis besorgt und wurde angezeigt.“ Auch als informeller Mitarbeiter, also Spitzel, wollte die Stasi ihn anwerben. „Wir waren alle erpressbar“, sagte Breithaupt. Telefonate wurden abgehört und mitgeschnitten. Es war die dunkle Zeit der DDR. „Gab es auch sonnige Zeiten?“, fragte Steinbeißer. Die gute Jugendarbeit und die Arbeit im Haus der Stille gehörten dazu. Hier habe er Menschen erlebt, die Mut hatten.

Pfarrerin: „Wir haben oft über Angst gesprochen“

Cornelia Ogilvie ist 1964 in der DDR geboren und heute Klinikseelsorgerin. „Die Grenze war bei uns ein unausgesprochenes Thema.“ Als einziges von sechs Kindern habe sie Abitur gemacht. Früher sei sie widerständig gewesen und hatte daher Probleme in der Schule. Bei politischen Themen sagte sie oft, was sie dachte, konnte vieles mit ihrem christlichen Glauben nicht vereinbaren. Später studierte sie Theologie in Rostock.1986 sind ihre Mutter und ihr Bruder in den Westen ausgereist - und in Horneburg gelandet.

Moderator Dominik Steinbeißer (von links), Mitarbeiter von Bibel-TV, mit Wolfgang und Elke Breithaupt und Cornelia Ogilvie.

Moderator Dominik Steinbeißer (von links), Mitarbeiter von Bibel-TV, mit Wolfgang und Elke Breithaupt und Cornelia Ogilvie. Foto: Laudien

Als jüngstes Kind ist Ogilvie im Osten geblieben und wollte dort Pastorin sein. „Wir haben oft über Angst gesprochen. Ich wollte sagen können, was ich denke. Aber ich wusste, dass ich in den Knast komme, wenn ich etwas Falsches sage.“ Am 7. Oktober 1989 habe sie an den Andachten in der Rostocker Marienkirche teilgenommen, bei denen Joachim Gauck zum Pastor der friedlichen Revolution wurde - und später Bundespräsident von Deutschland.

Demonstration mit Gänsehautgefühl

Am 9. November kam die Verkündung, dass die DDR die Grenzen öffnet - quasi ein Versehen von Günter Schabowski vom SED-Büro bei seiner Mitteilung, „dass die Übergangsregelung in Kraft zu setzen ist“. Eigentlich sollten nur die „ständigen Ausreisen“ neu geregelt werden, hieß es am Sonnabend in Harsefeld.

„Zum ersten Mal habe ich mit Herz und Seele demonstriert, vorbei an dem Stasi-Gebäude und mit Gänsehautgefühl. Viele strömten auf die Straße und ins Auto zur Mauer nach Berlin“, berichtete die 60-Jährige.

Sie machte sich aber auch Sorgen, wie es weitergeht. Am 6. Dezember bewachte sie die Eingänge der Stasi-Zentrale, damit die Akten nicht vernichtet werden. „Das war nicht ungefährlich. Mit 200 Leuten bildeten wir eine Menschenkette. Alles wurde mit Kameras überwacht. Ein Fahrzeug steuerte direkt auf uns zu. Wir fassten uns ganz fest an den Händen. Nur wenige Zentimeter vor uns hielt das Fahrzeug an.“

Einen Mitschnitt des Mauerfall-Abends gibt es unter: https://m.youtube.com/watch?v=k1wu3uaslxg&t=2s&pp=2AECkAIB

Cornelia Ogilvie war das jüngste von sechs Kindern.

Cornelia Ogilvie war das jüngste von sechs Kindern. Foto: Laudien

Angst und Überwachung in der DDR: Zeitzeugen teilen böse Erinnerungen in Harsefeld
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