TDie Angst war der Türöffner: Nazi-Propaganda bis in jedes Dorf

Erster Kreisrat Friedhelm Ottens, Julia Kuhnt aus dem Kreisarchiv Cuxhaven und Historiker Henning K. Müller. Foto: Reese-Winne
Sie versprachen Rettung und wollten Macht und Vernichtung: Wie die NSDAP den Aufstieg von der Splitterpartei zur Massenbewegung vorbereitete, beschreibt Historiker Henning K. Müller.
Otterndorf. Vor vollen Reihen stellte Müller in Otterndorf seine umfassende historische Arbeit zum Aufstieg der NSDAP im Elbe-Weser-Raum vor. An diesem Abend widmete er sich speziell dem Raum Cuxhaven und Hadeln.
Nazi-Propaganda drang in jedes Dorf vor
Fotos, Zeitungsausschnitte und Plakate zeigten eindrücklich, mit welcher Wucht die Nazi-Propaganda auch in die entlegensten Dörfer vordrang. Allerdings nicht sofort, wie die tief beeindruckten Zuhörerinnen und Zuhörer bewusst wahrnahmen. Der Aufstieg der in der Weimarer Republik mehrfach verbotenen nationalsozialistischen Partei hätte möglicherweise gestoppt werden können.
14 Jahre hat der Rotenburger Kreisarchivar Henning K. Müller an seinem 1424 Seiten umfassenden Werk „Die Völkische Bewegung und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Elbe-Weser-Raum“ gearbeitet, das in der Schriftenreihe des Landschaftsverbands Stade (Band 60) erschienen ist.
Nationalsozialismus
T Wohnstätte Stade: Die dunkle Vergangenheit des Ex-Chefs Karl Kühlcke
Die Lesung bildete den Auftakt für das Themenjahr „Demokratieförderung & Erinnerungskultur“ des Landkreises Cuxhaven. Der Landkreis setze damit ein Zeichen für den Schutz der Demokratie, betonte Erster Kreisrat Friedhelm Ottens und dankte Julia Kuhnt vom Kreisarchiv für die Organisation dieser Veranstaltungsreihe.
Einfache Lösungen für komplexe Probleme wie Klimawandel, Bildung, Sorge um Gesundheitswesen und Pflege, Wirtschaftskrise, Inflation und Umgang mit Migration gebe es nicht, betonte Friedhelm Ottens und rief dazu auf, Herausforderungen offen zu benennen und gemeinsam anzugehen, statt Ängste zu schüren.
Angst war Türöffner
Angst vor allem um die eigene wirtschaftliche Existenz war in den Jahren zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs (1918) und der Machtergreifung der Nazis (1933) der Türöffner für die Nazi-Propaganda, und das vielerorts in einer erschreckenden Rasanz und Radikalität, so Henning Müller.
Völkische Kleinstgruppen wie der „Bund deutscher Jungmannen“ oder der „Deutsche Schutz- und Trutzbund“ bereiteten den Boden für die Entwicklung der NSDAP. Ebenso die durch den Rassentheoretiker Willibald Henschel gegründete Artamanen-Bewegung, die in Westerwanna in einer Siedlung namens Niegard ein autarkes Leben mit dem Ziel der „Rassenauslese“ aufbauen wollte. Nach und nach ebneten auch die bislang liberal- bis konservativ-nationalen Parteien der NSDAP den Weg.
Propagandanetzwerk in der Region
Zu deren Propagandanetzwerk in der Region gehörten Parteiredner wie Friedrich-Wilhelm Lütt aus Cuxhaven, der 1920 als 18-Jähriger in die NSDAP eintrat und ab 1928 als hauptamtlicher Gau- und Reichsredner durch die Lande zog. Er gehörte als Gauamtsleiter des Gaus Ost-Hannover bis 1945 dem Reichstag an.
Weiter konnte sich die Partei auf protestantische NS-Pastoren wie Gerhard Hahn (Elmlohe), Carl Roth (Döse) oder Hugo Hoyer in Ihlienworth stützen, der direkt nach seinem Parteieintritt 1931 NSDAP-Kreisleiter wurde. Sie genossen das uneingeschränkte Vertrauen der Dorfbewohner - die Manipulation war perfekt.
Zeitgeschichte
T Buxtehude im Nationalsozialismus: Im Gleichschritt ins Dritte Reich
Neben einflussreichen Multiplikatoren stützte sich die Faszination laut Müller neben der anfänglichen Neugier vor allem auf die massive Propaganda, mit der die Partei auch zwischen den Wahlen bis ins letzte Dorf vordrang. Hitler sei als „Retter“ dargestellt, Kinder und Jugendliche instrumentalisiert worden. Die NSDAP habe bereits als Kleinstpartei in den Parlamenten bewusst Unruhe gestiftet, gestört und provoziert. Ihre Mission: Einschüchterung und Vernichtung des bestehenden Systems.
Das Publikum in Otterndorf reagierte bewegt. Monika Harms, Generalbundesanwältin a.D., schlug den Bogen in die Gegenwart: Der Weg des Aufstiegs der NSDAP sollte sehr aufmerksam machen, sagte sie. Die Nazis hätten auf Missstände gesetzt - „aber nicht, um den Menschen zu helfen, sondern um Macht auszuüben. Das passiert heute wieder.“
Vor eineinhalb Jahren hätte er nicht daran gedacht, dass Menschen sich heute wieder so schnell manipulieren ließen, bestätigte Müller: „Es bereitet mir Sorge, wie mit der Freiheit des Landes umgegangen wird.“ Lautstärke und scharfe Töne statt rationaler Gespräche mit dem Willen zum Konsens, das alles habe es schon einmal gegeben, hieß es aus dem Publikum: „Und alle haben bis 1945 begeistert mitgemacht. Denn 1933, nach der Machtübernahme, fing die Gewaltherrschaft erst richtig an.“

Der Landschaftsverband Stade hat das Buch „Die Völkische Bewegung und der Aufstieg des Nationalsozialismus im Elbe-Weser-Raum (1918-1933)“ herausgegeben. Foto: Landschaftsverband Stade

Dr. Henning K. Müller arbeitete 14 Jahre an seinem Werk und sichtete Unterlagen in 70 Archiven. Foto: privat