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Nationalsozialismus

TEine KZ-Überlebende auf Spurensuche nach ihrer Familie

Die Suche von Ingelore Prochnow nach ihren eigenen Wurzeln wird im Dokumentarfilm „Geboren in Ravensbrück“ gezeigt.

Die Suche von Ingelore Prochnow nach ihren eigenen Wurzeln wird im Dokumentarfilm „Geboren in Ravensbrück“ gezeigt. Foto: Michael Kohls

Mit 42 Jahren entdeckt Ingelore Prochnow Unfassbares: Sie ist in einem Konzentrationslager zur Welt gekommen. Bei der weiteren Spurensuche hilft ihr ein Zufall.

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Von Alexandra Bisping
Sonntag, 26.01.2025, 11:45 Uhr

Sandbostel. „Geboren in Ravensbrück“ ist ein Film über das Leben von Ingelore Prochnow, die zu den wenigen Kindern gehört, die im Konzentrationslager Ravenbrück überlebt haben. Dem TAGEBLATT hat die 80-Jährige ihre Geschichte erzählt.

Ingelore Prochnow wächst bei Adoptiveltern in Lemgo auf. Immer wieder macht ihre Adoptivmutter mysteriöse Andeutungen über die Herkunft des Kindes, stellt seine leibliche Mutter in ein schlechtes Licht. Das Kind muss seinen Adoptiveltern versprechen, nie nach ihr zu suchen. Als sie sterben, fühlt Ingelore Prochnow sich diesem Versprechen nicht mehr verpflichtet - und findet Unfassbares heraus.

KZ Ravensbrück gehört zu einem Teil ihres Lebens

„In den wenigen Unterlagen, die es von mir gab, stand als Geburtsort Ravensbrück“, erzählt sie. Dass es dort in Brandenburg ein Frauen-Konzentrationslager gegeben hat, habe sie gewusst, es aber nicht mit ihrer eigenen Biografie zusammengebracht. „Das war für mich einfach ein Ort“, sagt sie. „Was hatte ich damit zu tun?“

Das KZ Ravensbrück war laut Wikipedia das größte Konzentrationslager für Frauen im sogenannten deutschen Altreich zur Zeit des Nationalsozialismus. Es wurde 1938/1939 durch die Schutzstaffel (SS) in der Gemeinde Ravensbrück im Norden der Provinz Brandenburg errichtet. Man geht davon aus, dass 28.000 Häftlinge in Ravensbrück ums Leben gekommen sind.

Konzentrationslager Ravensbrück: Blick vom Turm der Kommandantur auf das Häftlingslager, SS-Propagandafoto.

Konzentrationslager Ravensbrück: Blick vom Turm der Kommandantur auf das Häftlingslager, SS-Propagandafoto. Foto: © Gedenkstätte Ravensbrück

Dass das KZ zu einem Teil ihres Lebens gehört, ahnt Ingelore Prochnow damals nicht. „Ich wusste, ich bin ein uneheliches Kind, mehr nicht.“ Sie heiratet mit 22 und zieht mit ihrem Mann nach Berlin. Bei Reisen in die ehemalige DDR fällt ihr auf, dass die Grenzbeamten beim Blick in ihren Pass, mit dem Geburtsort Ravensbrück, stutzen. Auch da ist sie noch ahnungslos, aber die Reaktionen bleiben in Erinnerung.

Nach dem Tod der Adoptiveltern nimmt sie Akteneinsicht

Mitte der 1980er Jahre sterben ihre Adoptiveltern und Ingelore Prochnow beginnt mit ersten Nachforschungen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 42. Im Archiv des zuständigen Jugendamts in Detmold wird sie fündig - und fast vom Schlag getroffen: Sie wurde als Ingelore Rohde im Frauen-KZ Ravensbrück geboren, am 5. April 1944, ein Jahr vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

„Ich war ungläubig und fassungslos“, sagt sie. „Aber die Andeutungen meiner Adoptivmutter bekamen jetzt einen Sinn und eine andere Bedeutung.“ Ingelore Prochnow will mehr über ihre Herkunft wissen. Es soll eine Spurensuche werden, die fast 30 Jahre andauert.

Auch Anfragen in Bad Arolsen bringen sie nicht weiter

„Ravensbrück war als KZ weniger bekannt als andere“, sagt Ingelore Prochnow. Gemeinsam mit ihrem Mann wälzt sie Bücher und Dokumente, um mehr herauszufinden. 1986 schreibt sie nach Ravensbrück, gibt den Namen der Mutter und ihr eigenes Geburtsdatum an. Sie wollte wissen: Waren ihre beiden Namen bekannt?

Die Antwort ist ernüchternd. Man habe nichts gefunden, heißt es. Auch vom Roten Kreuz in Bad Arolsen, dort gibt es die Arolsen Archives - International Center on Nazi Persecution, erhält sie auf ihre Anfrage einen negativen Bescheid. Sie sei ratlos gewesen, sagt Ingelore Prochnow. Dann kommt ihr der Zufall zu Hilfe.

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Inzwischen wohnt sie in Bielefeld. In der Neuen Westfälischen liest sie von einer Veranstaltung: Gertrud Müller, Vorsitzende der Lagergemeinschaft, ein Zusammenschluss Überlebender, kommt aus Stuttgart nach Bielefeld, um einen Vortrag über das KZ zu halten. Ingelore Prochnow fährt dort hin und kann mit ihr sprechen.

Endlich: Eine Suchanfrage verläuft vielversprechend

Getrud Müller bestätigt ihr, dass in Ravensbrück Kinder geboren wurden und überlebten. Sie berichtet von den vierteljährlich erscheinenden Ravensbrückblättern. Ingelore Prochnow stellt darin eine Suchanfrage in der Hoffnung, auf diesem Weg mehr über ihre Mutter zu erfahren. Als Kontakt gibt sie Gertrud Müller an. Und die Suchanfrage ist erfolgreich.

„Es dauerte nicht lange, da meldete sich eine Frau mit einem Brief bei der Lagervorsitzenden“, berichtet Inge Prochnow. Der Inhalt lässt darauf schließen, dass es sich um ihre Mutter Renate Lutz, geborene Rohde, handelt. Getrud Müller kennt die Frau, die wie sie in Stuttgart lebt.

Tochter und Mutter vereinbaren ein Treffen

Nach dem Brief sei sie zwiegespalten gewesen, erinnert sich Ingelore Prochnow. Sie habe zwar einen Kontakt gehabt, aber bei dem Brief ein ungutes Gefühl. „Es war anders, als ich es mir vorgestellt und gewünscht hatte.“ Ein Treffen wird vereinbart.

Unsicher, wie sie sich verhalten soll, holt sie sich Rat beim Roten Kreuz. Ein neutraler Ort wird ihr empfohlen, doch es heißt auch: „Es geht selten gut, das ist nicht wie im Fernsehen.“ Eine Ankündigung, die sich bewahrheiten sollte.

Konzentrationslager Ravensbrück: Häftlingsfrauen bei Erdarbeiten im Bereich der SS-Wohnsiedlung unter Aufsicht einer Aufseherin, SS-Propagandafoto, um 1941.

Konzentrationslager Ravensbrück: Häftlingsfrauen bei Erdarbeiten im Bereich der SS-Wohnsiedlung unter Aufsicht einer Aufseherin, SS-Propagandafoto, um 1941. Foto: © Gedenkstätte Ravensbrück

Ingelore Prochnow reist aus Bielefeld an, der Bahnhof in Essen wird als Treffpunkt vereinbart. Sie habe sich gut vorbereitet und das Treffen herbeigesehnt. Trotzdem sei die Angst gekommen.

Ingelore Prochnow hat ein Heft mit Fragen dabei, erfährt aber so gut wie nichts. „Mir saß eine wildfremde Frau gegenüber, da war nichts Vertrautes.“ Ihre Mutter habe nichts wissen wollen - nicht, wie es ihr ergangen ist, nicht, wie es ihr jetzt geht.

Ihre Eltern waren von der Gestapo verhaftet worden

Mit 19 Jahren war Renate Rohde, im fünften Monat schwanger, in das KZ Ravensbrück gekommen. Sie hatte ihre kleine Tochter in der Silvesternacht 1947/1948 in einem Flüchtlingsheim abgesetzt und verlassen.

„Das Wenige, was ich von ihr erfahren habe, war, dass mein Vater ein polnischer Zwangsarbeiter gewesen war.“ Ihn hatte die Mutter im Sommer 1943 auf einem Bauernhof in Welsleben nahe Magdeburg kennengelernt. Dort hatte sie gearbeitet. Nach einer Denunziation waren beide von der Gestapo verhaftet worden.

Die Mutter zeigt keine emotionale Regung, kein Interesse. Ein schreckliches Treffen sei das gewesen. Unglücklich und weinend sei sie nach Hause gefahren, sagt Ingelore Prochnow, hatte sie dem Ereignis doch mit Hoffnungen und Erwartungen entgegengesehen. Nach sechs Monaten startet sie erneut einen Versuch.

Ingelore Prochnow forscht weiter nach

Gertrud Müller arrangiert ein zweites Treffen. Die Mutter weiß nicht, dass Ingelore Prochnow mit ihrem Mann auch da sein wird. Als sich die beiden Frauen sehen, fragt sie ihre Tochter: „Müsste ich Sie kennen?“

Auch dieses Mal verläuft es enttäuschend, ihre Mutter will nichts erzählen, weicht aus. Ein weiteres Treffen kommt nicht zustande. Einmal habe sie ihre Mutter noch gesehen, ohne selbst gesehen zu werden, zufällig, bei einer Befreiungsfreier in Ravensbrück. „Ich bin nicht mehr auf sie zugegangen.“

Die Erforschung ihrer eigenen Biografie nimmt Ingelore Prochnow nun selbst in die Hand. Nach dem Tod ihrer Mutter erhält sie die Sterbeurkunde. „Die hat mir alle Türen geöffnet.“

Nach dem Tod der Mutter kommt einiges zutage

Ingelore Prochnow findet einiges heraus, unter anderem, dass ihre Mutter in der Nervenheilanstalt Eickelborn gewesen war. Ein Arzt vor Ort schlägt auf ihr Bitten in Unterlagen nach. Anschließend sagt er, er wolle dabei sein, wenn sie erfahre, was darin stehe. Es ist wieder ein Tiefschlag: Die Mutter hatte angegeben, ein Kind geboren zu haben, das an Unterernährung und Lungenentzündung gestorben sei.

„Sie hat ihr Leben so eingerichtet, als ob ich nicht existiert hätte“, sagt Ingelore Prochnow. „Das hab ich für sie auch nicht.“ Später stellt sich heraus, dass ihre Mutter dem Roten Kreuz in Arolsen untersagt hatte, Informationen herauszugeben.

Ingelore Prochnow erfährt mehr über ihren Vater und dass sie zwei Halbbrüder hat, einer bereits verstorben. Sie überlegt, Kontakt aufzunehmen, doch ihr Mann bittet sie, nicht weiter zu forschen. „Wenn ich in mich reinhorche“, sagt Ingelore Prochnow, „merke ich, dass ich damit leben kann.“

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