Zähl Pixel
Polio

TEin Leben mit Schmerzen: Wenn die Kinderlähmung ihren Tribut fordert

Viele Menschen, die an der Spätfolgen der Kinderlähmung leiden, sind auf Gehhilfen angewiesen.

Viele Menschen, die an der Spätfolgen der Kinderlähmung leiden, sind auf Gehhilfen angewiesen. Foto: Friso Gentsch

Kinderlähmung: bis in die frühen 1960er-Jahre eine Schockdiagnose für Eltern. Dann kam die Schluckimpfung und die Krankheit geriet in Vergessenheit. An Polio Erkrankte leiden indes unter den Spätfolgen der Infektion. Drei Betroffene erzählen.

Von Jakob Brandt Samstag, 16.12.2023, 17:50 Uhr

Kinderlähmung, einst eine gefürchtete Infektionskrankheit, bei der es bei schwerem Verlauf zu Lähmungen der Muskulatur kam, gilt dank der 1962 eingeführten Schutzimpfung europaweit als ausgerottet. Ein Segen. Viele der etwa 60.000 noch lebenden Betroffenen aber leiden Jahrzehnte nach Ausbruch der Krankheit am sogenannten Post-Polio-Syndrom (PPS), den Spätfolgen der Kinderlähmung. Ursache soll unter anderem die chronische Überlastung der verbliebenen Restmuskulatur sein.

Erkrankung ist nicht heilbar

Muskelschwäche und Lähmungen, rasche Erschöpfung, Müdigkeit sowie diffuse Muskel-, Nerven- und Gelenkschmerzen weisen auf die chronische, nicht heilbare Erkrankung, deren Verlauf sich nur verlangsamen lässt, hin. Die therapeutischen Möglichkeiten scheinen begrenzt. Betroffenen wird geraten, sich nicht zu überanstrengen, sondern auf ein möglichst gesundes Maß an körperlicher Betätigung achten.

Viele Mediziner haben Schwierigkeiten, die Erkrankung zu diagnostizieren. „Über die Spätfolgen von Kinderlähmung wissen längst nicht alle Ärzte Bescheid“, sagt Inge Grosse-Wolter, die vor zehn Jahren die Polio-Selbsthilfegruppe Bremervörde und Umgebung ins Leben gerufen hat. Ihr ging es primär darum, Betroffene und Mediziner über PPS zu informieren.

Für die an PPS Erkrankten ist die Selbsthilfegruppe eine Art Geschenk. Grosse-Wolter geht davon aus, im Laufe der Jahre so gut wie alle Polios zwischen Elbe und Weser erreicht zu haben. Bei den monatlichen Treffen kann sie um die 20 Teilnehmer begrüßen, Betroffene und deren Angehörige.

Wehleidig sind Polios nicht. Sie mussten sich ihr Leben lang durchbeißen, die einen mehr, die anderen weniger. Bärbel Scheele, Renate Schlichting und Hela Neumann sind als Kinder an Polio erkrankt und leiden heute unter den Spätfolgen der Kinderlähmung. Sie schildern, wie sie mit der Erkrankung klarkommen.

Bärbel Scheele aus Visselhövede hatte die Krankheit schon vergessen. Doch dann kamen die Schmerzen.Foto: Jakob Brandt

Bärbel Scheele aus Visselhövede hatte die Krankheit schon vergessen. Doch dann kamen die Schmerzen.Foto: Jakob Brandt Foto: Jakob Brandt

Bärbel Scheele aus Visselhövede erkrankte mit fünf Jahren an Kinderlähmung, erholte sich in der Klinik aber recht schnell davon. „Ich konnte danach alles machen“, sagt die 70-Jährige. „Langlauf, tanzen: Ich hatte keine Einschränkungen mehr. Nur mein linkes Bein war um einen Zentimeter kürzer als das rechte.“ Und so vergaß sie die Krankheit. Dass es Spätfolgen gibt, wusste sie nicht.

Scheele wurde Lehrerin und lebte mit ihrem Mann fast 35 Jahre lang in Bayern. Nach dem Tod ihres Mannes entschied sie sich, wieder in die alte Heimat zu ziehen. Beim Packen all ihrer Sachen kam sie körperlich an ihre Grenzen. „Mir ging es nicht gut“, sagt sie. „Hatte keine Kraft mehr, konnte kaum noch laufen.“ Vor allem ihr linkes Bein tat weh.

Ein merkwürdiger Brief

In ihren Sachen entdeckte sie auch einen Brief des Polio-Bundesverbandes, in dem auf die Spätfolgen von Kinderlähmung hingewiesen wurde. Den nehme ich mit, sagte sich Scheele, ohne zu wissen, warum.

Zunächst wussten die Ärzte nicht, was ihr fehlte. Im Krankenhaus in Rotenburg erhielt sie 2016 die Diagnose: Post-Polio-Syndrom. „Als ich die Diagnose hatte, war ich froh“, sagt die 70-Jährige. „Jetzt wusste ich, wie mit den Beschwerden umzugehen ist und dass ich im Grunde nicht mehr viel machen kann.“

Auch der Rücken macht Probleme

Bärbel Scheele nimmt dann auch Kontakt zur Polio-Selbsthilfegruppe Bremervörde auf, von der in dem besagten Brief die Rede ist. Mit Physiotherapie, mit Bädern und Reha versucht sie, die Krankheit in Schach zu halten. Trotzdem stürzt sie zweimal. Sie lässt sich einen Treppenlift einbauen und schafft sich einen Rollstuhl an: „Weil man sich ja nicht überanstrengen soll.“

Neben Schmerzen in Hüften und Knien, hat sie heute auch mit Rückenproblemen zu kämpfen. Und das Gehen fällt immer schwerer: „Du willst gehen, aber es funktioniert einfach nicht“, erzählt sie. Und trotzdem ist sie dankbar. „Man kann gut mit der Krankheit leben. Nur man kann eben nicht mehr überall hin.“

Renate Schlichting aus Stade hat sich durchs Leben gekämpft und als Kind Lästermäuler vermöbelt.Foto: Jakob Brandt

Renate Schlichting aus Stade hat sich durchs Leben gekämpft und als Kind Lästermäuler vermöbelt.Foto: Jakob Brandt Foto: Jakob Brandt

Renate Schlichting aus Stade ist zweieinhalb Jahre alt, als sie an Polio erkrankt und vom Hals an gelähmt ist. Weil die Ärzte zunächst Grippe diagnostizieren, kommt das Mädchen erst acht Wochen nach Ausbruch der Krankheit in die Klinik. Ein ganzes Jahr lang wird sie in der Reha-Klinik physiotherapeutisch behandelt.

Ihre Eltern sind bereit, alle Ersparnisse für ihre Tochter auszugeben. „Man hat mich dort wieder auf die Beine gebracht“, sagt die heute 84-Jährige. Das kleine Mädchen lernt wieder selbstständig zu laufen, nur mit dem linken Arm und dem rechten, verkürzten Bein hat sie Probleme.

Humpelbein schlägt zurück

Probleme, die ein Leben lang bleiben. „Humpelbein“, pöbeln die Kinder. Doch die kleine Renate lässt sich nicht unterkriegen, nimmt sich die Lästermäuler vor. „Kraft hatte ich genug, und Angst hatte ich auch nicht“, erzählt sie. Sie schafft es sogar, Urkunden bei den Bundesjugendspielen zu ergattern, denn springen und werfen kann sie gut, nur laufen nicht.

Renate Schlichting findet den Mann fürs Leben und bekommt drei Kinder. Als diese aus dem Haus sind, beginnt sie Soziologie in Oldenburg zu studieren. 52 Jahre alt ist sie da. Es geht ihr gut, doch während des Studiums merkt sie, dass sich ihr Körper irgendwie verändert, sich Probleme beim Laufen bemerkbar machen.

Aus der Zeitung erfährt sie von der Selbsthilfegruppe, und dass es Spätfolgen von Polio gibt. Sie geht zu einem Neurologen, und der bestätigt: Sie hat PPS. Das Laufen fällt Renate Schlichting heute schwer. „Ich überlege mir jeden Gang“, sagt sie. „Ich komme mit den Einschränkungen aber einigermaßen klar, auch, weil man Mann überall Stützhilfen anbaut.“

„Man muss die Krankheit akzeptieren, dann kann man auch mit ihr umgehen“, sagt Hela Neumann aus Bremervörde.Foto: Jakob Brandt

„Man muss die Krankheit akzeptieren, dann kann man auch mit ihr umgehen“, sagt Hela Neumann aus Bremervörde.Foto: Jakob Brandt Foto: Jakob Brandt

Auch bei Hela Neumann aus Bremervörde wird zunächst Grippe diagnostiziert. Elf Monate ist sie, als sie an Polio erkrankt. Sie ist komplett gelähmt, nur den Kopf kann sie bewegen. Das linke Bein bleibt gelähmt, mit dem rechten kann sie eingeschränkt gehen. Außerdem gibt es Probleme mit der linken Hand.

„Als Kind war es richtig schlimm“, sagt die 76-Jährige. „Irgendwie habe ich mich so durchgewurstelt.“ Sie lernt Bürokauffrau und findet einen Mann, der sie liebt, so wie sie ist: In erster Linie eine Frau mit viel Witz und Humor. „Humor muss man haben“, sagt sie. „Man muss die Krankheit akzeptieren, dann kann man auch mit ihr umgehen.“

Hela Neumann sitzt schon seit 30 Jahren im Rollstuhl. Für viele Menschen eine Horrorvorstellung. Nicht für die Bremervörderin. „Meine Lebensqualität hat sich mit dem Rollstuhl stark verbessert. Ich bin jetzt viel beweglicher und gut auf Reisen.“

PPS macht aber auch ihr zu schaffen: „Mit dem Greifen wird es schwieriger, oft fallen mir Sachen aus der Hand. Und weil ich nicht mehr stehen kann, kann ich auch kein Auto mehr fahren“, sagt sie und lacht. Nein, unterkriegen lassen sich die alten Polios nicht. „Wir sind Kämpfer“, sagt Inge Grosse-Wolter. „Wir mussten uns von Kindesbeinen an durchkämpfen - und tun es auch heute noch.“

Weitere Artikel