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Norddeutschland

TEU-Wahl: Poltikwissenschaftler erklärt, warum sie so wichtig ist

Lothar Probst gehlrt zu den renommiertesten Politikwissenschaftlern in Deutschland.

Lothar Probst gehlrt zu den renommiertesten Politikwissenschaftlern in Deutschland. Foto: Dpa

Die Europawahl rückt näher. Wie wichtig ist der Termin den Menschen in der Region? Und wie steht es um die Erfolgsaussichten der einzelnen Parteien? Der Bremer Politikwissenschaftler Professor Dr. Lothar Probst bietet im Interview erstaunliche Einblicke.

Von Jens Gehrke Mittwoch, 05.06.2024, 09:00 Uhr

Herr Probst, wie wichtig ist die Europawahl am 9. Juni?

Die Situation ist paradox: Einerseits wird die EU immer wichtiger, zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik und in der Gesetzgebung, und andererseits fremdeln viele Bürgerinnen und Bürger mit der EU.

Die Wahlbeteiligung lag bei der Europawahl im Jahr 2019 in Deutschland bei mehr als 61 Prozent - nach vielen Jahren mit sinkenden Werten. Ein Ausreißer?

Während in den Anfängen der EU die Wahlbeteiligung noch hoch war, ist sie im Laufe der Jahrzehnte immer weiter abgesackt. Nur 2019 ist sie in Deutschland sprunghaft angestiegen. Es war das Wahljahr nach dem Brexit und in der Trump-Ära.

Außerdem hatte durch die Auseinandersetzung mit der AfD die Polarisierung und Politisierung in der Gesellschaft zugenommen. Ich vermute, dass wir in Deutschland dieses Mal wieder über dem langjährigen Mittel liegen werden, bei einer Wahlbeteiligung zwischen voraussichtlich 55 und 60 Prozent.

Wie wichtig sollte die Wahl den Menschen sein?

Viele Probleme lassen sich heutzutage nicht mehr auf nationaler Ebene lösen. Wenn man etwa an Umweltfragen, an die Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder auch wenn man an die Fragen der Migrationspolitik denkt. Das sind alles Fragen, die nur die Staaten in der EU gemeinsam lösen können.

Diese Wahl könnte - objektiv gesehen - kaum wichtiger sein. Die höchste Identifikation und Wahlbeteiligung haben wir allerdings bei Bundestagswahlen, während Landtags- und Europawahlen weniger Aufmerksamkeit generieren. Wir sprechen in der Politikwissenschaft von Wahlen zweiter Ordnung, obwohl das bei EU-Wahlen eigentlich nicht gerechtfertigt ist.

Trotzdem fehlt vielen Menschen nicht nur in Bremerhaven die emotionale Bindung zur EU.

Ich glaube, dass die Konstruktion der EU mit ihren komplizierten Entscheidungsprozessen schwer zu verstehen ist: Rat der Europäischen Union, Europaparlament, Europarat, Europäische Kommission, Einstimmigkeit, einfache Mehrheiten, qualifizierte Mehrheiten: Das sind oft Begriffe, für die man Politik studiert haben muss, um sie zu verstehen.

Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat einmal den Begriff „Cold Projects“ geprägt. Von solchen Gebilden geht nur wenig Wärme aus; sie entwickeln keine affektive Bindungsfähigkeit. Die emotionale Begeisterung der Wählerinnen und Wähler fehlt deshalb ein bisschen. Vielleicht bräuchte man dafür doch so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa - ähnlich wie in den USA.

Welche Themen sind auch Ihrer Sicht die wichtigsten für die Menschen bei der Europawahl?

Die Konflikte zwischen Russland und Ukraine sind sicherlich das brennendste Thema. Viele Menschen erkennen, dass die russische Aggression Europa in seiner Substanz bedroht. Das bewegt viele Menschen. Darüber hinaus wird die Frage des Umgangs mit Migration für einen Teil der Wählerinnen und Wähler immer wichtiger. Die EU kommt dabei seit Jahren nicht so richtig voran.

Welche Parteien haben gute Erfolgsaussichten am Wahltag?

Da es keine Fünfprozenthürde gibt, haben auch kleinere Parteien wie „Die Partei“ oder Volt eine Chance. Auch das Bündnis Sahra Wagenknecht könnte ein achtbares Ergebnis erzielen. Spitzenreiter wird sicherlich die CDU, aber auch nur mit einem Ergebnis von um die 30 Prozent. Grüne, SPD und AfD kämpfen um den zweiten Platz.

Der Wahlkampf der AfD wird allerdings durch die Vorgänge um ihren Spitzenkandidaten Maximilian Krah belastet, so dass das Ergebnis möglicherweise schlechter ausfällt als erwartet, zumal die AfD ja eigentlich die EU abschaffen will.

Welchen Eindruck haben Sie bislang vom Wahlkampf?

Wie in den Vorjahren ist es in erster Linie ein nationaler und nicht ein europäischer Wahlkampf. Die SPD wirbt unter anderem mit Olaf Scholz als „stärkste Stimme“ für Europa. Dabei weiß jeder, dass von Scholz wenige proeuropäische Initiativen ausgegangen sind und er sich in vielen Fragen mit Emmanuel Macron, dem wichtigsten Verbündeten in Europa, überworfen hat.

Bei den Christdemokraten ist Ursula von der Leyen das „Gesicht“ der Wahl, sie steht aber auf gar keiner Liste. Claudia Köhler-Treschok (CDU) ist die einzige Kandidatin aus Bremerhaven. Sie hat faktisch aber keine Chance, ins EU-Parlament einzuziehen, auch wenn die CDU ein super Gesamtergebnis erhalten sollte. Die Kandidaten der anderen Parteien kennt man kaum. Ist das nicht alles zu verwirrend?

Die Listen sind ein Dilemma für die kleinen Landesverbände der Parteien wie Bremen, und zwar egal ob Landes- oder Bundesliste. Sie haben es schwer, sich gegen die mitgliederstarken Landesverbände wie NRW, Baden-Württemberg, Hessen oder Niedersachsen durchzusetzen. Aus Bremen wird dieses Mal wohl niemand in das EU-Parlament einziehen.

Erstmals dürfen schon 16-Jährige mitwählen. Was bedeutet das?

Die Wählergruppe der 16-Jährigen ist aufgrund der demografischen Entwicklung relativ überschaubar in Deutschland. Es dominieren die über 60- und 70-Jährigen, die außerdem weitaus häufiger an Wahlen teilnehmen als die jüngsten Alterskohorten. Insofern wird die Wahl der 16-Jährigen keinen großen Effekt auf das Wahlergebnis haben.

Trotzdem ist es sinnvoll, dass 16-Jährige wählen dürfen. Die Mündigkeit hat sich nach unten verschoben. Obendrein: Die Jüngeren wissen über soziale Medien oft besser Bescheid über politische Themen als die Älteren. Daher ist es vernünftig, dass man Jüngere wählen lässt.

Der Wahl-o-Mat ist bei jungen Menschen beliebt - ist er aus Ihrer Sicht eine sinnvolle Hilfe?

Ja, man sollte den Wahl-O-Mat unbedingt nutzen, um sich zu informieren und zu orientieren. Er sollte aber nur eine Entscheidungshilfe sein und die eigene, begründete Wahl nicht beeinflussen.

Jahrzehntelang hat die Jugend eher linker als die Elterngeneration gewählt. Dieses Mal sagen viele Experten auch bei der Jugend einen Rechtsruck voraus. Woran könnte das liegen, teilen Sie die Einschätzung?

Es gibt nicht nur in Deutschland, sondern europaweit eine Rechtsverschiebung. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert und rechte und rechtsextreme Parteien sind europaweit im Aufwind. Der Wind richtet sich inzwischen eher gegen progressive Kräfte. Das merkt man auch bei jüngeren Leuten. Vorfälle wie das rechtsextreme Gegröle auf Sylt und bei anderen Gelegenheiten sind ein Symptom für diese Entwicklung.

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