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Volkstrauertag

TGroßmutter und Enkelin zittern in Buxtehude um ihre Liebsten an der Front

Für sie ist der Krieg immer gegenwärtig: Valentina Syniachenko und ihre Enkelin Anastasia Kamenkova, hier am Kriegerdenkmal im Buxtehuder Stadtpark.

Für sie ist der Krieg immer gegenwärtig: Valentina Syniachenko und ihre Enkelin Anastasia Kamenkova, hier am Kriegerdenkmal im Buxtehuder Stadtpark. Foto: Richter

Seit 79 Jahren herrscht in Deutschland Frieden. Das ist nicht selbstverständlich, zeigt ein Gespräch zum Volkstrauertag: Zwei Ukrainerinnen in Buxtehude fürchten um das Leben ihrer Angehörigen.

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Von Anping Richter
Sonntag, 17.11.2024, 07:00 Uhr

Buxtehude, Bützfleth. Der Volkstrauertag ist dem Gedenken an die Opfer von Krieg und Gewalt gewidmet - ein sogenannter stiller Tag. Doch wenn Valentina Syniachenko an den Krieg denkt, ist er laut. „Plötzlich wurde geschossen, überall waren Bomben“, erzählt sie. Einer der ersten Raketenangriffe auf Kiew im Februar 2022 traf das Gebäude, in dem ihre jüngere Tochter lebte. Sie blieb unverletzt. „Aber für uns war es mehr als ein Schock. Wir konnten nicht mehr sprechen. Wir hatten keine Worte mehr.“

Auch heute bricht Valentina Syniachenkos Stimme, wenn sie von den Panzersperren in den plötzlich leeren Straßen ihrer sonst so lebhaften Heimatstadt erzählt. Die 66-Jährige ist in der früheren Sowjetunion groß geworden. Immer hatten viele Russen in der Ukraine und viele Ukrainer in Russland gelebt. Nun beschoss das Bruderland sie mit Raketen. „Unvorstellbar“, sagt Valentina Syniachenko.

Familienrat beschließt: Oma und Enkelin sollen fliehen

Im Frühjahr 2022 war die russische Offensive stark, die Front nur noch wenige Kilometer entfernt. Valentina und ihre Familie lebten zwei Wochen fast nur im Keller, um sich vor den Raketen zu schützen. Sie hat zwei verheiratete Töchter. Die Schwiegersöhne meldeten sich gleich zu Beginn der Invasion freiwillig und waren bald an verschiedenen Orten im Fronteinsatz.

Zwei Wochen nach Kriegsbeginn tagte der Familienrat. Sie hatten erfahren, dass viele der Zivilisten, die nicht flohen, von den Russen nach ihrem Einmarsch getötet worden waren, und beschlossen: „Oma, du fährst und nimmst Nastja mit.“ Gemeint war Anastasia Kamenkova, ihre einzige, damals 18-jährige Enkelin. In aller Eile brachen die beiden auf.

„Wir hatten nur einen Rucksack, eine Tasche und das, was wir am Leibe trugen“, berichtet Valentina. Großmutter und Enkelin kamen nach Buxtehude, wo sie von einer Familie mit drei Kindern aufgenommen wurden. „Sie waren so lieb zu uns und haben uns mit allem geholfen“, sagt Anastasia. Damals hatte sie gerade die Schule abgeschlossen. Heute ist sie 20 und studiert in Kiew Filmregie. Online, im Fernstudium, wie viele junge Ukrainer.

Bützflether Professor unterrichtet Studenten im Bunker

Junge Menschen wie Anastasia, die sich mitten im Krieg auf eine bessere Zukunft vorbereiten, trifft auch Dr. Hartmut Meyer aus Bützfleth. Neben seinem Lehrauftrag für Betriebswirtschaft an einer deutschen Hochschule hat er seit Neuestem auch einen an einer ukrainischen. Er unterrichtet Studierende in Charkiw, wo sich die Lage gerade bedrohlich entwickelt. „Ganz im Stil des 21. Jahrhunderts war ich am Freitag mit einem Mausklick im Krieg“, berichtet Meyer. Seine Studenten sitzen im Bunker und hören eine Vorlesung über Entrepreneurship.

Hartmut Meyer ist auch ehrenamtlicher Lektor in St. Nicolai Bützfleth, wo er an diesem Sonntag ab 9.30 Uhr den Gottesdienst zum Volkstrauertag halten wird. Zum Gedenken an die Toten wird ein Kranz niedergelegt und Namen aus bekannten Bützflether Familien werden verlesen: Johannes Dreyer, gefallen 1944 im Alter von 23 Jahren; Heinrich Petersen, gefallen 1945 im Alter von 27 Jahren; Adolf Köser, gefallen 1943 im Alter von 19 Jahren.

„Was muss ich tun, damit meinen Kindern und Enkelkindern diese Erfahrung erspart bleibt?“, fragt Hartmut Meyer. Der Volkstrauertag sei nicht nur ein Tag der Trauer, sondern auch ein Tag der Verantwortung. „Ich habe in den Gesprächen mit Menschen, die in Kriegsgebieten leben, gespürt, wie wertvoll dieser Frieden ist, den wir hier haben. Es liegt an uns, dieses Geschenk zu bewahren und zu verteidigen.“

Mitschüler an der Front gefallen

Die 20-jährige Anastasia, die im friedlichen Buxtehude studiert, hat seit der russischen Invasion schon mehrere Schulkameraden verloren. Eine Freundin von ihr mache in Frontnähe Organisationsarbeit: „Jedes Mal, wenn wir telefonieren, zählt sie auf, wer von unseren Freunden gefallen ist.“ Anastasia hofft, dass ihrem Vater und ihrem Onkel das nicht passiert. Sie sind zurzeit in der Ostukraine im Einsatz.

Wo genau, wissen Anastasia und ihre Großmutter nicht. Die Soldaten dürfen nicht darüber sprechen und auch nicht angerufen werden. Anastasia und Valentina warten praktisch immer sehnlich auf den nächsten Anruf von ihnen. „Aber jedes Mal, wenn das Telefon klingelt, haben wir auch Angst, dass es eine schlechte Nachricht sein könnte“, sagt Großmutter Valentina.

Ukrainische Frauen knüpfen Tarnnetze für Soldaten

Ihren Töchtern, die in Kiew geblieben sind, geht es nicht anders. Sie versuchen, die Soldaten zu unterstützen. Sie knüpfen Tarnnetze. Alles an Altkleidern, was grau, braun oder grün ist, wird dazu verarbeitet. Und sie stellen Lichter für die kalten, feuchten Schützengräben und Tunnel her, in denen sich die Männer an der Front verschanzen, erklärt Valentina. Sie rollen Pappe zusammen, tränken sie mit Wachs und füllen sie in Konservendosen. Wenn das abbrennt, leuchtet es nicht nur - es wärmt auch ein wenig.

Der Winter kommt. Die russischen Angriffe auf die Energieversorgung nehmen zu. Anastasia und Valentina sagen, dass sie aus zwei Gründen trotzdem Hoffnung haben. Erstens: „Unsere Soldaten sind ein Wunder“, sagt Valentina. Der zweite Grund seien die vielen Menschen, die ihnen in Deutschland Gutes getan haben. „Wenn wir alle gegen Putin zusammenhalten, wird es irgendwann Frieden geben“, sagt ihre Enkelin Anastasia.

Valentina Syniachenko und Übersetzerin Svitlana Wötzke umarmen sich zum Abschied.

Valentina Syniachenko und Übersetzerin Svitlana Wötzke umarmen sich zum Abschied. Foto: Richter

*Für die Übersetzung des Gesprächs dankt das TAGEBLATT der Buxtehuderin Svitlana Wötzke, die als Übersetzerin für die Stadt Buxtehude tätig war und Valentina Syniachenko und Anastasia Kamenkova kennt, seit sie in Buxtehude angekommen sind.

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