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TGründerstar: Fredenbecker Wohlfühlort für Demenz-Erkrankte

Anke (links) und Theresa Kahlich vor dem denkmalgeschützen Gebäude, in dem das Utspann seine Heimat hat.

Anke (links) und Theresa Kahlich vor dem denkmalgeschützen Gebäude, in dem das Utspann seine Heimat hat. Foto: Bisping

Wo einst Knechte die Tiere ausspannten, steht heute eine Wohneinrichtung für Demenzkranke. Die Betreiberinnen erhielten dafür 2012 den Gründerstar. Einblicke in ein besonderes Konzept.

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Von Alexandra Bisping
Sonntag, 10.11.2024, 07:00 Uhr

Fredenbeck. Eine lebendige Stimmenkulisse dringt aus der großen Diele des denkmalgeschützen Bauernhauses. Dort sitzen viele Menschen an großen Tischen, manche im Rollstuhl. Der Raum ist hell erleuchtet, die Atmosphäre entspannt, alles wirkt normal. Dass die meisten Anwesenden nicht wissen, wo sie sind, scheint kaum vorstellbar.

Ein herzliches Willkommen an der Eingangstür stimmt auf das freundlich eingerichtete Gebäudeinnere ein.

Ein herzliches Willkommen an der Eingangstür stimmt auf das freundlich eingerichtete Gebäudeinnere ein. Foto: Bisping

Seit 2012 führen Anke und Theresa Kahlich die Wohneinrichtung Utspann in Fredenbeck. Sie haben alles selbst auf die Beine gestellt, Konzept, Finanzierung, Sanierung, Businessplan. Für den gab es im gleichen Jahr den Gründerstar.

Hier dürfen die Bewohner ausschlafen

Den Kahlichs ist es zu verdanken, dass sich dort an Demenz erkrankte Menschen wohlfühlen. „Ausspannen - umsorgt werden - sein dürfen“, so das Motto der Betreiberinnen. Das füllen sie und ihre Angestellten mit Toleranz, Wärme und Herzlichkeit.

„Warum sollen unsere Bewohner um 6.30 Uhr geweckt werden?“, fragt Anke Kahlich. Im Utspann darf ausschlafen, wer möchte, Frühstück gibt es bis mittags.

Einer der Aufenthaltsräume im Utspann.

Einer der Aufenthaltsräume im Utspann. Foto: Bisping

Demenzkranke sind eigene Persönlichkeiten, im Utspann dürfen sie das zeigen. Stühle umstellen, putzen oder anderen sagen, wo es langgeht - daran werde keiner gehindert. Solange niemand zu Schaden komme, könnten die Bewohner machen, was sie wollten. „Da läuft eben einer im Sommer im Schlüppi rum, na und?“ Anke Kahlich wird deutlich: „Bei uns sind die, die nicht führbar sind und die andere nicht wollen.“

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Die Bedürfnisse von Demenzkranken zu stillen, sei besonders wichtig. „Wir erreichen sie nicht mehr über den Verstand“, erklärt die Heimleiterin, „sondern über Gefühle, Emotionen, das Herz.“ Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter begegneten jedem mit Respekt und Zuneigung, „die Bewohner sollen sich gut aufgehoben fühlen“. Das zeigten ihre Reaktionen: mal ein Augenzwinkern, ein kurzer Händedruck, ein Streicheln über den Arm.

So viele Demenzkranke gibt es in Deutschland

„Weg vom Geist“ respektive „ohne Geist“ laute die wörtliche Übersetzung des Begriffs „Demenz“ aus dem Lateinischen, informiert die Homepage des Bundesgesundheitsministeriums. Dabei verschlechterten sich die geistigen Fähigkeiten bis hin zum völligen Verlust.

„Am Anfang der Demenz sind häufig Kurzzeitgedächtnis und Merkfähigkeit gestört, im weiteren Verlauf verschwinden auch bereits eingeprägte Inhalte des Langzeitgedächtnisses.“

Lichtdurchflutet und bebildert sind die breiten Flure der Wohneinrichtung.

Lichtdurchflutet und bebildert sind die breiten Flure der Wohneinrichtung. Foto: Bisping

Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft spricht von 1,8 Millionen Erkrankten im Jahr 2022 - allein 2021 erkrankten 440.000 Menschen neu an Demenz. Und die Zahl der unter 65-Jährigen, die an Demenz erkrankten, sei deutlich höher als angenommen.

Viele Bewohner sind körperlich fit

Die Kahlichs bestätigen das. Zwischen 57 und 92 Jahren sind die Bewohner alt, viele unter 70, sagt Theresa Kahlich. Dabei seien Demenzkranke oft körperlich fit, müssen ausgelastet werden, gehen spazieren oder räumen den ganzen Tag etwas um.

„In einem offenen Konzept“, sagt Anke Kahlich, „können sie nicht integriert werden - man muss sie beschützen.“ Eine Bewohnerin ist seit mehr als zehn Jahren dort.

Mit dem Gedanken, einen Ort für Demenzkranke zu schaffen, hatten sie und ihre Tochter sich schon lange befasst. Theresa Kahlich lernte Hauswirtschaft und studierte Gerontologie, Alterswissenschaften. Dass ihr Vorhaben auf dem Gelände des ehemaligen Bauernhofs gut funktioniert, dafür mussten die Kahlichs einiges an Überzeugungsarbeit leisten.

„Alles selbst gemacht - von der Pike auf“: Heimleiterin Anke Kahlich steht vor einer Fotowand, die die Entstehung des Utspann dokumentiert.

„Alles selbst gemacht - von der Pike auf“: Heimleiterin Anke Kahlich steht vor einer Fotowand, die die Entstehung des Utspann dokumentiert. Foto: Bisping

Als das mehr als 200 Jahre alte Gebäude an der Vorfeldstraße zum Verkauf stand, griffen die Kahlichs zu - nicht ahnend, wie viel Arbeit sie sich allein mit Denkmalschutz und Bauvorschriften aufgehalst hatten. Doch sie packten an, besuchten Kurse, informierten sich über Existenzgründung, verfassten einen „Plan, wie man eine Einrichtung aus dem Boden stampft“.

Und wurden belächelt: Das könne nicht klappen, hörten sie, so weit ab vom Schuss gebe es für die Menschen nichts zu sehen. Sie machten weiter und erlebten nach der Eröffnung erneut Unangenehmes.

Plötzlich sahen sie sich mit Sensationslust konfrontiert

Als es los ging, kamen Spaziergänger vorbei, glotzten durch die Fenster. „Sensationsbesucher“ machten sich über die Bewohner lustig. Einfach respektlos sei das. „Menschen gehören nicht angegafft.“ Einen Tag der offenen Tür gibt es darum nicht. Besuchen dürfen die engsten Angehörigen, Freunde, Nachbarn.

Denkmalschutz, Bürokratie, Personalführung - die Kahlichs beschäftigen mehr als 60 Mitarbeiter und bilden aus - alles eine große Herausforderung. Eine Entscheidung fürs Leben, sagt Anke Kahlich. Gab es große Änderungen durch den Gründerstar? Eigentlich nicht, sagen beide. Dass ihr Konzept funktioniert, zeigt die Nachfrage. Das Utspann ist mit 36 Bewohnern voll belegt.

Die diesjährige Gründerstarbroschüre gibt es hier.

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