THandball-EM: Was Deutschland zur absoluten Weltspitze fehlt

Juri Knorr wird von Karl Olivier Konan und Frankreichs Luka Karabatic bedrängt. Foto: Sören Stache/dpa
Im dritten Vorrundenspiel der EM 2024 gab es für die deutschen Handballer gegen Olympiasieger Frankreich einen Dämpfer. Mit welcher Taktik spielt Deutschland und was fehlt zur absoluten Weltspitze? Eine Analyse für Handball-Fans.
Berlin. Als das DHB-Team 2007 die Weltmeisterschaft gewann, mussten die Spieler rund 50 verschiedene Spielsysteme beherrschen. Viele der Auslösehandlungen enthielten Kreuze, um die Abwehr auseinanderzuziehen. Die Spielidee hätte Deutschland gegen Frankreich gebrauchen können.
Angriff: Frankreich legt Schwächen offen
2024 spielt Deutschland Schach. Bevor der Rückraum Tempo aufnimmt, legt er sich den Gegner zurecht. Dazu spielen sie meist ein leeres Kreuz oder lassen den Kreisläufer die Position wechseln. Für die Abwehr ändert sich die Zuordnung, und die breite Spielanlage isoliert mindestens einen Verteidiger. Heißt: Er steht mit Abstand zu seinen Mitspielern.
Das nutzt Deutschland aus und attackiert überwiegend über Julian Köster oder Juri Knorr. Gewinnen sie ihre Zweikämpfe gegen den isolierten Gegner, bieten sich meist drei Optionen: Torabschluss, Kreisanspiel oder Querpass - je nachdem, wie gegnerische Spieler ihrem isolierten Kollegen zur Hilfe eilen.

Deutschland biss sich gegen Frankreich mitunter die Zähne aus. Foto: Andreas Gora/dpa
Die Taktik ist ideal gegen die vielen Teams, die offensiver verteidigen und funktionierte sowohl gegen die Schweiz, Mazedonien und zunächst auch Frankreich. Trainer Guillaume Gille orderte seine Stars daher nach hinten. Sie bildeten einen defensiven Abwehrblock, der die deutschen Angreifer ins Zentrum lockte. Das DHB-Team tappte in die Falle.
Gegen tief stehende Gegner hilft es, mit Kreuzen anzugreifen - wie Brand damals. Deutschland, das bisher bei der EM fast komplett ohne solche Bewegungen ausgekommen ist, probierte diesen Weg auch, scheiterte aber mit verzweifelten Rückraumwürfen. Für vier Distanztreffer benötigten sie 17 Versuche. Zum Vergleich: Frankreich traf 11 von 14.
Verteidigung: Mehr Attacken aus dem toten Winkel
6:0, 5:1 oder 3:2:1 - Was spielt Deutschland eigentlich für eine Abwehrformation? Im modernen Handball lässt sich ein Defensivverbund nicht an Zahlen festmachen - die Ordnung passt sich stets dem Spielgeschehen an und ändert sich pro Angriff mehrfach. Bundestrainer Gislason lässt etwa die Halbverteidiger hoch verteidigen (4:2), mitunter rückt auch ein Spieler aus dem Mittelblock vor (3:3) oder das komplette Team verteidigt am 9-Meter (0:6).
Ziel ist es, Passwege zu erschweren, das Spielfeld optisch kleiner wirken zu lassen und insbesondere dafür zu sorgen, dass ballführende Spieler kein Tempo aufnehmen können. Das funktionierte im bisherigen Turnierverlauf gut. Nur fünf Teams haben weniger Würfe auf das Tor zugelassen und Andreas Wolff ist mit 39,24 Prozent gehaltener Bälle der beste Stammtorhüter des Turniers.
Was Deutschland häufiger probieren könnte, sind Attacken aus dem toten Winkel. Dabei greift der ballferne Halbverteidiger überraschend den Mittelspieler an und schafft eine optische Überzahlsituation.
Überzahl und Unterzahl: Zu statisch?
Die Tote-Winkel-Idee nutzt Deutschland in Unterzahl umso häufiger und sorgt dafür, dass auf der Ballseite spielerische Gleichzahl herrscht. Deutschland hat 2-Minuten-Strafen bislang relativ schadlos überstanden.
In Überzahl setzt Alfred Gislason auf die eingespielte Achse Juri Knorr und Kreisläufer Jannik Kohlbacher. Beide spielen bei den Rhein-Neckar Löwen. Knorr lenkt das Spiel direkt vor der Abwehr. Das ist auf höchstem Niveau mitunter zu durchschaubar.
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Was zur Spitze fehlt
In der Hauptrunde zählen für Deutschland nur Siege, will man noch ein Wintermärchen kreieren. Was noch fehlt, um ganz vorn mitzuspielen, sind drei wesentliche Punkte:
Favoriten wie Frankreich und Dänemark sind auf allen Positionen mehrfach auf Weltklasse-Niveau besetzt. Deutschland mangelt es von der Bank an vergleichbarer Qualität. Das dürfte sich künftig ändern: Mit Renars Uscins und Martin Hanne stehen die nächsten Ausnahmetalente bereit.
Deutschland sollte mehr Würfe für die starken Außen kreieren und in den Abschlüssen effizienter werden. Bislang sind nur 63,2 Prozent der Würfe drin - die Weltspitze liegt bei fast 75 Prozent.
Handball ist ein Fehlersport und scheinbar leistet sich Deutschland zu viele. Tatsächlich zählt man zu den Teams, die pro Spiel die wenigsten Ballverluste (7,67) haben. Das war gegen Frankreich nicht anders. Die leichten Fehler leistet sich Deutschland aber in kritischen Phasen - in denen die Top-Teams abgeklärter sind.

TAGEBLATT-Redakteur Lars Wertgen Foto: Richter