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Historische Tragödie

THingerichtet in Himmelpforten: Dietrich Alsdorf bleibt auf Annas Spuren

Dietrich Alsdorf

Dietrich Alsdorf Foto: Klempow

Einst wurde die junge Anna Meyer in Himmelpforten hingerichtet, ein grauenvolles Spektakel. Dietrich Alsdorf hat ihr schon einen Roman gewidmet - aber Anna lässt ihn nicht los.

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Von Grit Klempow
Montag, 08.12.2025, 07:02 Uhr

Himmelpforten. Dietrich Alsdorf steht in einem Wäldchen. In der Unscheinbarkeit von Bäumen und Laub steckt ein Kreuz im Boden - an dieser Stelle sind zwei Menschen gewaltsam gestorben. Sie wurden enthauptet.

Vor 190 Jahren wurden Anna Meyer und Claus Meyer in der Heide bei Himmelpforten aufs Schafott geführt. Sie waren zum Tode verurteilt worden. Zusammen hatten sie den Bauern Cord Meyer in Blumenthal erdrosselt, den Vater von Claus und Ehemann von Anna. Die Chronisten berichten davon, die Tragödie wurde in einem Theaterstück verarbeitet - und war auch Dietrich Alsdorf schon als Teenager geläufig.

Neuer Artikel im Allgemeinen Haushaltungskalender

Der Stader hat bis zum Ruhestand bei der Kreisarchäologie gearbeitet. Er ist Autor historischer Romane und fundierter Artikel, unter anderem im Allgemeinen Haushaltungskalender, der just druckfrisch erschienen ist. Darin widmet Alsdorf einen Beitrag der jungen Anna Meyer.

Ihr Schicksal fesselt ihn auch nach 20 Jahren der Spurensuche noch. Ihr Tod liegt im Jahr 1835 in der Zeit so weit zurück, dass Dokumente fehlen, Spuren im Sand verlaufen. Und gleichzeitig scheint diese Zeit so nah zu sein, dass das Fehlen von Menschlichkeit und das Massenspektakel einer öffentlichen Hinrichtung umso barbarischer wirken.

Am Anfang steht die Archäologie

„Der Anfang ist eigentlich immer eine archäologische Grabung“, sagt Alsdorf und blickt auf das Kreuz mit den Namen. Anna und Claus. Er hat es nicht aufgestellt. Aber er hat das Grab der beiden entdeckt. Ein Rätsel, das er gelöst hat.

Das Kreuz marktiert das Grab, in das die Leichen einst nach der Hinrichtung gebettet wurden. Später müssen die Toten aber ihre letzte Ruhe andernorts gefunden haben.

Das Kreuz marktiert das Grab, in das die Leichen einst nach der Hinrichtung gebettet wurden. Später müssen die Toten aber ihre letzte Ruhe andernorts gefunden haben. Foto: Klempow

Dass er das verschwundene Grab finden wollte, hatte mit dem Klosterjubiläum 2005 in Himmelpforten zu tun. Und mit der Anfrage, welche Sehenswürdigkeiten es rund um das Dorf gebe. Das Grab des Liebespaares, befand Alsdorf und machte sich auf die Suche.

Gleichzeitig folgte er anderen Spuren, las die Gerichtsakte mit den vielen Notizen, die Stellungnahmen der Pastoren und Berichte der Chronisten. Und er stellte infrage, ob hinter der Tragödie des Liebespaares nicht viel mehr stecken könnte. Denn in der Gerichtsakte blieb sein Blick an Wortfetzen hängen: „..freiwillig hätte ich Cord Meyer nie die Hand gegeben.“ Das hatte er ab da immer im Hinterkopf - vielleicht hatte sich die junge Frau aufgelehnt gegen diesen Mann.

Suche nach dem Grab der Enthaupteten

Berufsbedingt systematisch machte sich Alsdorf auf die Suche nach dem damaligen Richthügel und dem Grab. Es gab einen Hinweis auf ein Flurstück, damals mit Heide bewachsen. Er stocherte mit der Sonde im Boden, Meter für Meter.

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„Das war fürwahr ein ganz erhabener Moment, als die Stange hier locker runter ging“, sagt er und blickt auf das Kreuz zu seinen Füßen. Er hatte den Richthügel gefunden. „Der musste so hoch gewesen sein“ - Alsdorf hält die Hand in Schulterhöhe. Nach der Hinrichtung wurde ein mannstiefes Loch für zwei Körper gegraben.

Annas Sarg auf dem Oldendorfer Kirchhof

Also grub 172 Jahre später Alsdorf an gleicher Stelle. Er legte das Grab frei. Aber: es war leer. Der Richthügel war schnell abgetragen worden - und die Toten fanden anderswo ihre letzte Ruhe. Wo, ist nicht dokumentiert. Aber Alsdorf stieß auf Indizien.

Heimlich und in aller Stille ist die junge Frau auf dem Oldendorfer Kirchhof begraben worden. Für Alsdorf ist das mehr als naheliegend. Denn er war dabei, als sich 2009 die Kreisarchäologie der alten Gräber von Oldendorf annahm, um sie vor einer großen Baumaßnahme zu sichern. Bis 1871 waren an der Kirche Menschen bestattet worden. Und plötzlich stieß eine Kollegin auf ein Grab am Rand, halb unter der Hainbuchenhecke. Der Sarg war nur als Bodenverfärbung erkennbar. 1,70 Meter lang. Der Schädel ruhte im Rippenbogen.

Ein Rätsel scheint gelöst

Am Ende der Dokumentation steht die Annahme, dass die Frau geköpft wurde - und im fraglichen Zeitraum gab es nur eine hingerichtete Frau in der Gegend. Für Alsdorf passt das. Annas Onkel aus Bossel habe ein Familiengrab in Oldendorf besessen - und der junge Oldendorfer Pastor von Spreckelsen hatte Anna als Seelsorger ohnehin durch ihre Haftjahre und bis auf den Richthügel begleitet. Er ist sich sicher: Der Pastor ließ sie nach Oldendorf umbetten. Dieses Rätsel ist für ihn gelöst.

Annas Schicksal lässt Alsdorf dennoch nicht los. Im Allgemeinen Haushaltungskalender schildert er aktuell, welche Bedeutung das Gesangbuch von Anna hatte, das sich im Familienbesitz befindet und das er in den Händen halten durfte - so wie Anna, die daran Halt suchte, auf ihrem letzten Weg zum Richthügel.

Roman „Anna aus Blumenthal“

Alsdorf setzte die Puzzleteile ihrer tragischen Lebensgeschichte neu zusammen. „Anna aus Blumenthal“ hieß sein Roman, der 2007 erschien. Alsdorf deckte auf, wer das Mordopfer Cord Meyer wirklich war. „Ich wusste, dass Cord Meyer böse ist. Aber dass er so böse ist ...“, sagt er. Im Buch „Abels Blut“ beschreibt er, dass Meyer einer von der übelsten Sorte war, gewaltätig, verschlagen, skrupellos.

Bei seinen Recherchen konnte Alsdorf auf Unterstützung zählen, von Familienforschern, Ortsansässigen, Heimatkundlern oder einer versierten Autorin. Irgendwann gebe es so viel Material, „dann kommt der Punkt, an dem Du nicht mehr zurück kannst. Dann steckst du drin in diesem Leben“, sagt Alsdorf.

Frauen auf dem Schafott

Es ist nicht nur das Leben von Anna Meyer, geborene Spreckels. Auch Anna Brümmer, die Kehdinger Magd und „Kindsmörderin“, starb durch den Scharfrichter in Riensförde. Oder die „rote Lena“, die 1840 hingerichtet wurde, laut Chronisten „auf dem hochgelegenen Ackerteil zwischen der Ohrenser und der Harsefelder Landstraße“.

Die Gebeine der „roten Lena“ hat Alsdorf gefunden. Es war seine letzte Grabung vor dem Ruhestand. „Das hat mich wirklich angefasst. Wie man einen Menschen wie ein Stück Vieh in so einen Sarg wirft, mit verdrehten Armen und den Kopf zu den Füßen geworfen...“

Warum rühren ihn diese Frauen so an? „Ich will sie zurückholen, aus dem Vergessen in die Gegenwart, in die Geschichtsschreibung eines Dorfes, einer Landschaft, einer Gemeinde. Ihre Schicksale, das schreckliche Leid, das ihnen widerfahren ist, ist vergessen“, sagt Dietrich Alsdorf. Das will er ändern, den Frauen eine Würde geben, die ihnen zu Lebzeiten nicht zugestanden wurde.

Menschenmenge strömt zum Richtplatz

Die Himmelpfortener und die Menschen aus der Umgebung strömten am 24. Juli 1835 zum Richtplatz. Der Weg, den die Menge, die singenden Schulkinder und die Verurteilten nehmen mussten, gibt es noch heute. Er führt zu einem Richthügel mit Findling und eisernem Kreuz.

Ein Findling mit Kreuz steht auf dem „Richthügel“ in Himmelpforten, der an die Hinrichtung der jungen Frau und ihres Geliebten erinnert.

Ein Findling mit Kreuz steht auf dem „Richthügel“ in Himmelpforten, der an die Hinrichtung der jungen Frau und ihres Geliebten erinnert. Foto: Klempow

Der ist am Waldrand zum Gedenken an Anna und Claus und die letzte Hinrichtung im Ort vor einigen Jahren errichtet worden. Ein Trampelpfad führt nach oben. Weitere Spurensucher?

Alsdorf ist mit seiner Suche noch nicht am Ende. Offen ist die Frage nach der Tochter, die bei Annas Tod ein Kleinkind war. Vielleicht wuchs sie behütet bei Pflegeeltern auf. Vielleicht aber hat auch der Kindersarg eine besondere Bedeutung, der ganz nah bei „Anna“ in Oldendorf bestattet wurde - einen DNA-Abgleich gaben die Gräber nicht her. Vielleicht bleibt Dietrich Alsdorf diese Gewissheit verwehrt.

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Ein Weg, den zusammen mit Anna und Claus vor fast 200 Jahren eine Menge von Schaulustigen nahm.

Ein Weg, den zusammen mit Anna und Claus vor fast 200 Jahren eine Menge von Schaulustigen nahm. Foto: Klempow

Ein Foto dokumentiert die Ausgrabung an der Kirche in Oldenorf 2009: In der Rekonstruktion wird die Lage des verschobenen Leichnams im Grab deutlich. Vermutlich verrutschte die Tote beim Umbetten aus dem ursprünglichen Richthügel.

Ein Foto dokumentiert die Ausgrabung an der Kirche in Oldenorf 2009: In der Rekonstruktion wird die Lage des verschobenen Leichnams im Grab deutlich. Vermutlich verrutschte die Tote beim Umbetten aus dem ursprünglichen Richthügel. Foto: Alsdorf

Allgemeinder Haushaltungskalender 2026, Titelseite

Allgemeinder Haushaltungskalender 2026, Titelseite Foto: ZVK

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