Zähl Pixel
Justiz

TLandgericht Stade: Der längste Prozess dauerte 1856 Tage

Am Stader Landgericht konnten bei 55 im Laufe des Jahres 2023 eingegangenen allgemeinen Strafsachen 58 abgeschlossen werden - also auch welche aus den Vorjahren.

Am Stader Landgericht konnten bei 55 im Laufe des Jahres 2023 eingegangenen allgemeinen Strafsachen 58 abgeschlossen werden - also auch welche aus den Vorjahren. Foto: Carmen Jaspersen/dpa

2023 war für das Landgericht Stade ein besonderes Jahr. 58 Strafverfahren hielt die Richter und Richterinnen auf Trab. Darunter ein Fall, der bundesweit Schlagzeilen machte. Und dann wurde auch noch eine andere Baustelle aufgemacht.

author
Von Susanne Helfferich
Freitag, 15.03.2024, 05:50 Uhr

Stade. Zunächst ein Blick in die TAGEBLATT-Redaktion: Zeitweise berichtete sie im vergangenen Jahr parallel über sechs Strafverfahren am Stader Landgericht. Das forderte nicht nur die Reporterinnen und Reporter heraus, auch das Landgericht kam personell und räumlich an seine Grenzen - vor allem, wenn Verfahren über Monate andauern.

„Die Strafkammern am Landgericht sind deutlich belastet“, sagt Landgerichtspräsidentin Ingrid Stelling. Wirtschaftsstrafverfahren etwa würden immer komplexer und schwieriger. Verfahren mit mehreren Angeklagten fordern die Justiz: „Es gibt eine Verhandlung mit acht Angeklagten. Da haben wir ein räumliches Problem.“ Doch nicht nur das: Mit mehr Beteiligten steigen auch die Verhandlungstage, jeder muss im Zweifel ja auch zu Wort kommen können.

Landgericht Stade konnte 58 Verfahren abschließen

So hat im vergangenen Jahr ein Schleuserprozess (Tatort Bremerhaven) mit fünf Angeklagten die Wirtschaftskammer des Landgerichts Stade mit drei Berufsrichtern und zwei Schöffen über Monate beschäftigt. Das Verfahren dauerte von Anklageerhebung bis zum Urteil mehrere Jahre, insgesamt 1856 Tage - und ein Ende ist noch nicht absehbar, die Angeklagten haben Rechtsmittel eingelegt. Zum Vergleich: Bei Wirtschaftsstrafsachen liegt die durchschnittliche Verfahrensdauer bei 558 Tagen.

Erfreulich aus Sicht der Präsidentin ist, dass dennoch bei 55 im Laufe des Jahres 2023 eingegangenen allgemeinen Strafsachen 58 abgeschlossen werden konnten; also auch welche aus den Vorjahren. Insgesamt wurden, Wirtschaftsstrafverfahren und Schwurgerichtssachen eingerechnet, 86 Strafverfahren erledigt.

Urteil im Imbiss-Mord-Prozess ist rechtskräftig

In Erinnerung bleiben insbesondere die Schwurgerichtsprozesse. Dort werden Kapitalverbrechen, wie Mord, Totschlag oder Körperverletzung mit Todesfolge verhandelt. Bei zehn Eingängen konnten fünf abgeschlossen werden. Dazu gehörte auch der sogenannte „Imbiss-Mord-Prozess“. Ein halbes Jahr dauerte die Hauptverhandlung vor der 2. Großen Strafkammer. Über das Geschehen war bundesweit berichtet worden. Ungeklärt blieb das Motiv. Am 13. Juni verurteilte die Kammer den damals 28-Jährigen, der unter anderem einen bei der Tat 23-Jährigen in Stade mit einer Schusswaffe getötet hatte, zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Eine vom Angeklagten eingelegte Revision wurde vom Bundesgerichtshof (BGH) abgelehnt. Seit dem 19. Oktober 2023 ist das Urteil rechtskräftig.

Ebenfalls rechtskräftig ist die Verurteilung zweier Männer, 29 und 20 Jahre alt. Sie hatten im Mai 2022 in Stade während einer Auseinandersetzung zweier Gruppen eine bereits am Boden liegende, schwer verletzte junge Frau mit Faustschlägen und Tritten gegen den Kopf so schwer verletzt, dass die 22-Jährige wenige Zeit später im Krankenhaus verstarb. Das Urteil der 1. Großen Strafkammer: sechs und sieben Jahre wegen Totschlags. Die Revision beider Angeklagten wurde vom BGH verworfen. Seit 15. November 2023 ist das Urteil rechtskräftig.

Verurteilte Betreuungsrichterin hat Revision eingelegt

Fast vier Monate zog sich der Prozess wegen versuchten Mordes und Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion hin. Angeklagt war ein 32-Jähriger, im Altländer Wohnhaus seiner Eltern eine Gasleitung manipuliert zu haben, um mittels Zeitschaltuhr eine Explosion auszulösen. Der mutmaßliche Anschlag missglückte aufgrund eines Kurzschlusses. Die 3. Große Strafkammer verurteilte den Sohn zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte hat Revision eingelegt, noch ist nicht darüber entschieden worden.

Auch am Landgericht verhandelt wurde ein Verfahren wegen Rechtsbeugung. Angeklagt war eine Betreuungsrichterin am Amtsgericht Rotenburg. Sie soll in 15 Fällen geschlossene Unterbringungen angeordnet haben, ohne die Betroffenen zuvor persönlich anzuhören. Sie wurde zu zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Über die von der Angeklagten eingelegte Revision ist ebenfalls noch nicht entschieden worden.

Mehr Missbrauchsfälle: Opferschutz spielt große Rolle

Auffällig ist die Zunahme der Missbrauchsfälle. „Ob es zunehmend mehr Fälle des sexuellen Missbrauchs gibt, wissen wir nicht. Aber offenkundig ist die Bevölkerung so sensibilisiert, dass diese Fälle eher zur Anzeige gebracht werden“, sagt Ingrid Stelling. Tendenziell werde aus Gründen des Opferschutzes versucht, Missbrauchsfälle eher beim Landgericht anzusiedeln. Damit durchlaufe das Opfer nur eine Instanz und müsse auch nur einmal gehört werden. Entscheidend, ob Amts- oder Landgericht, sei der zu erwartende Strafrahmen, so Stelling.

Landgerichtspräsidentin Ingrid Stelling besichtigt mit Architekt Karsten Peper den Fortschritt des Umbaus im Eingangsbereich.

Landgerichtspräsidentin Ingrid Stelling besichtigt mit Architekt Karsten Peper den Fortschritt des Umbaus im Eingangsbereich. Foto: Helfferich

Die Belastung für das Gericht nimmt zu. Die reinen Verhandlungstage seien noch der geringste Bestandteil, so Stelling. Die meiste Zeit nehme im Vorwege, insbesondere bei Wirtschaftsstrafsachen, die Aktenbearbeitung in Anspruch; unter anderem seitenweise Niederschriften von Telekommunikation. Alles was später verwendet wird, muss in der Hauptverhandlung eingeführt werden. „Wir überlegen, ob wir eine 4. Große Strafkammer einrichten müssen“, sagt die Präsidentin.

Auch die Zivilverfahren nehmen wieder zu. Das allerdings freut Ingrid Stelling. „Wir hatten schon Sorge, dass im Zivilbereich die Justiz nicht mehr gefragt ist.“ Streitparteien suchten andere Wege oder Lösungen, ließen sich zunächst von der Künstlichen Intelligenz die Erfolgschancen ausrechnen, bevor sie klagen. Ob das aber immer Gerechtigkeit schafft, sei fraglich.

Mehr Sicherheit schafft in jedem Fall der neue Eingang des Hauptgebäudes. Seit November wird dort renoviert und umgebaut. Hier gibt es nun eine gläserne Eingangsschleuse mit Gepäck-Scanner, so dass jeder Besucher durchleuchtet wird, bevor er die eigentlichen Räume der Gerichtsbarkeit betreten kann. Die Schleuse aus Glas schafft Transparenz. Die Hauptpforte ist nur noch Eingang, nach draußen führen andere Wege.

Am Stader Landgericht konnten bei 55 im Laufe des Jahres 2023 eingegangenen allgemeinen Strafsachen 58 abgeschlossen werden - also auch welche aus den Vorjahren.

Am Stader Landgericht konnten bei 55 im Laufe des Jahres 2023 eingegangenen allgemeinen Strafsachen 58 abgeschlossen werden - also auch welche aus den Vorjahren. Foto: Carmen Jaspersen/dpa

Weitere Artikel