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TMissbrauch von Kindern in Elsdorf: Ein Opfer erzählt Erschreckendes

Peter Braun (rechts) bei seiner Einschulung. Kaum vorstellbar, was einige Kinderseelen aushalten mussten. Bereits im Säuglingsalter kam er in ein Kinderheim.

Peter Braun (rechts) bei seiner Einschulung. Kaum vorstellbar, was einige Kinderseelen aushalten mussten. Bereits im Säuglingsalter kam er in ein Kinderheim. Foto: Braun/privat

Der Dachbodenfund im Elsdorfer Pfarrhaus offenbart erschreckende Details über das Leben von Heimkindern ab den 50er Jahren. Eines der geschlagenen Kinder ist Peter Braun.

Von Kathrin Harder-von Fintel Sonntag, 12.10.2025, 12:50 Uhr

Elsdorf. Welches Leid ist Kindern zwischen den 50er und 80er Jahren in der Kirchengemeinde Elsdorf widerfahren? Briefe von Heimkindern sind vor anderthalb Jahren im Elsdorfer Pfarrhaus entdeckt worden.

In den alten Schriftstücken sind Hinweise auf Gewalt gefunden worden. Kinder, die ab den 50er Jahren in Pflegestellen in Elsdorf untergebracht waren, schreiben über psychische, physische und sexualisierte Gewalt.

Die diakonische Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel hatte zusammen mit dem örtlichen evangelischen Pfarramt die Kinder damals auf Höfe und in Handwerksbetriebe vermittelt.

Peter Braun hat keine guten Erinnerungen an seine Zeit in Elsdorf. Heute lebt der 79-Jährige im Landkreis Göttingen.

Peter Braun hat keine guten Erinnerungen an seine Zeit in Elsdorf. Heute lebt der 79-Jährige im Landkreis Göttingen. Foto: Braun/privat

Die Briefe der misshandelten Mädchen und Jungen gingen in der Zeit an einen kirchlichen Mitarbeiter in Elsdorf, dem ebenfalls sexualisierte Gewalt vorgeworfen wird.

Der Dachbodenfund im Elsdorfer Pfarrhaus hat es in sich. Mittlerweile sind alle Dokumente aus den Kartons gesichtet worden und das Ergebnis ist erschreckender als zunächst gedacht: Namen von 338 Kindern tauchen auf, 17 von ihnen haben laut den Unterlagen sexualisierte Gewalt in Elsdorf erfahren, die Dunkelziffer soll deutlich höher sein.

Kirchenvertreter schlägt erbarmungslos zu

Kirchenvertreter haben Betroffene und weitere Zeugen dazu aufgerufen, sich zu melden und Licht in die dunkle Vergangenheit Elsdorfs zu bringen. Ein Betroffener ist Peter Braun.

Er war Heimkind, wurde in Elsdorf konfirmiert und verbrachte seine Jugend auf einem Hof in der Gemeinde. Im Gespräch mit der Zevener Zeitung erzählt er von schlimmen Gewalterfahrungen.

Der Tagesablauf bestand für den Jungen aus Melken, Schule und Arbeiten. „Als junger Mensch war ich dann viel zu müde, um Hausaufgaben zu machen“, weiß er noch. Haben sich Lehrer oder Hofbesitzer über seine schlechten Leistungen beschwert, habe er dafür Prügel von einem kirchlichen Mitarbeiter kassiert.

Auf dem Dachboden im Elsdorfer Pfarrhaus wurden Kartons mit brisanten Briefen von Heimkindern gefunden. Die Aufarbeitung der Akten beginnt im Januar 2026. Der Fund umfasst mehrere Tausend Seiten.

Auf dem Dachboden im Elsdorfer Pfarrhaus wurden Kartons mit brisanten Briefen von Heimkindern gefunden. Die Aufarbeitung der Akten beginnt im Januar 2026. Der Fund umfasst mehrere Tausend Seiten. Foto: Harder-von Fintel

Dieser war damals als stellvertretender Vormund in Verantwortung. „Einmal habe ich im Konfirmandenunterricht vor allen Mitkonfirmanden Schläge von ihm bekommen, so dass ich dann besinnungslos in der Ecke lag“, erinnert sich Peter Braun.

Seine Pflegeeltern selbst hätten ihn nicht geschlagen, die berichteten dem kirchlichen Mitarbeiter lediglich über sein Verhalten, erklärt der 79-Jährige.

Wer Fehler machte, wurde verprügelt

Peter Braun war Halbwaise und wurde in Celle geboren. Seine Mutter gab ihn bereits im Säuglingsalter ins Heim. In seiner Kindheit hat er in Einrichtungen nahe Hermannsburg, Celle und Soltau gelebt.

Er erinnert sich an schlimme Erziehungsmethoden in einem damaligen Heim in Großburgwedel. Oft habe er rohe Gewalt erfahren. „Ich habe wieder in Erinnerung, dass der Rohrstock das Allheilmittel war“, erzählt Braun.

Peter Braun im Alter von 18 Jahren bei der Bundeswehr in Schleswig.

Peter Braun im Alter von 18 Jahren bei der Bundeswehr in Schleswig. Foto: Braun/privat

Bei Verfehlungen im Unterricht wurden Schüler zum Lehrerpult befohlen, mussten sich dann über eine Schulbank bücken und die Hose runterziehen. Je nach Alter gab es dann die Anzahl der Schläge auf den nackten Hintern. Er selbst erhielt acht Hiebe.

„Ein weiteres Übel war, dass wir Kinder für den Verbrauch in der Heimküche die Kartoffeln schälen mussten. Wer nun die Kartoffeln zu dick geschält hatte, bekam die Schalen später gekocht und musste diese dann essen. Und das auch manchmal durch gewaltsame Fütterung. Wer dies dann wieder ausbrach, dem wurde das Erbrochene wieder gewaltsam eingeflößt“, schildert der 79-Jährige im Gespräch mit der Zevener Zeitung.

Gewaltsame Fütterung

Er ist sich sicher, dass die Verantwortlichen für solche Erziehungsmethoden heutzutage vor Gericht landen würden. Damals waren Kinder dem Ganzen chancenlos ausgeliefert. Und: „Man stelle sich vor, diese Dinge geschahen in einer kirchlichen Einrichtung.“

Als Kind auf einen Hof nach Elsdorf gekommen

Über das Pestalozzi-Stift ist er dann im Alter von acht Jahren nach Elsdorf vermittelt worden. Dort habe man ihm gesagt, dass er später Knecht auf einem Hof werde und deshalb nicht für die Schule lernen müsse.

„Was soll man als Kind machen, wenn man keine Unterstützung vom stellvertretenden Vormund bekommt?“, fragt er rhetorisch. Vor der Schule musste er früh raus zum Melken. „Wenn ich aus der Schule kam, waren Schularbeiten nicht wichtig, es wurde gegessen und es ging direkt an die Arbeit - bis abends.“

Braun suchte nach seiner Mutter

Ein Knecht unterstützte ihn beim Rechnen. „Sonst wäre ich noch nicht mal bis zur siebten Klasse gekommen“, glaubt er rückblickend. „Nachdem ich konfirmiert wurde, musste ich aus Dankbarkeit bei den Pflegeeltern bleiben - bis zum 16. Lebensjahr“, erklärt der 79-Jährige.

So hatte es der kirchliche Mitarbeiter vorgeschlagen, weil der Bauer ihn aufgenommen hatte. „Ich habe dann Mittel und Wege gesucht, dort wegzukommen.“ Als der Geistliche „ein Schläfchen machte“, ist es Peter Braun gelungen, in dessen Unterlagen zu schauen.

„Dann habe ich gesehen, wer meine Mutter ist und hatte ihre Anschrift.“ Der Jugendliche schrieb sie daraufhin an. „Aber sie hat sich dann nie gemeldet, aber ihrer Schwester den Brief gezeigt.“ Seine Tante hat sich schließlich mit ihm in Verbindung gesetzt.

Und so hat er mitbekommen, dass er viele Halbgeschwister hat. Mit 16 Jahren verließ Peter Braun Elsdorf, um in Celle eine Lehre als Maler zu beginnen.

Schlimme Erinnerungen werden wach

Heutzutage lebt er mit seiner Familie in Staufenberg im Landkreis Göttingen. Der Dachbodenfund in Elsdorf hat Erinnerungen an damals geweckt. „Ich gehe auch auf die 80 zu, vieles ist da oben im Kopf vergraben.“ Er hat versucht, das Ganze wieder aufzuwirbeln.

Für Peter Braun ist es schwierig, an Akten von damals zu kommen. Mehrmals hat er die zuständigen Stellen wie Jugendämter um Unterlagen gebeten.

Vom Pestalozzi-Stift hat er diese einst bekommen, an anderen Stellen sind sie nach so vielen Jahren nicht mehr verfügbar. „Allein die Berichte, was dort drinstand, haben mich so runtergezogen. Ich habe die Dinger genommen und sie durch den Reißwolf gedreht.“

Von sexuellen Übergriffen aus damaliger Zeit kann Peter Braun auch berichten. Der kirchliche Mitarbeiter soll Mädchen von Pflegestellen in Elsdorf abgeholt haben. Mit einem sei er durch die Gegend gefahren und habe versucht, sie zu „vernaschen“.

Die Jugendliche soll ihren damaligen Pflegeeltern davon erzählt haben, weiß Peter Braun. „Beim zweiten Mal hat sie sich eine Schreckschusspistole besorgt, die sie dann dabei hatte. Solche Begebenheiten waren das halt.“

Auch er selbst hat sexuellen Missbrauch in seiner Jugend in Elsdorf erfahren. Detailliert schilderte er im Dezember 2024 der Anerkennungskommission der evangelischen Kirche neben Gewalterfahrungen auch die sexuellen Übergriffe auf einem Heuboden.

Der Antrag des Betroffenen auf Leistungen in Bezug auf das erlittene Unrecht wurde allerdings von der Kirche zurückgewiesen. Begründung: Er habe zwar erhebliche körperliche Gewalt erfahren, diese stelle aber „keine sexualisierte Gewalt im Sinne der Ordnung der Anerkennungskommission dar“.

Außerdem seien die sexuellen Übergriffe nicht von einem kirchlichen Mitarbeiter verübt worden. Eine Verantwortlichkeit der Institution Kirche sei dadurch nicht gegeben, erfährt Peter Braun im Januar 2025 in dem Ablehnungsschreiben aus Hannover.

Aktenfund wird 2026 detailliert untersucht

Dem 79-Jährigen fällt es schwer, über die damalige Zeit zu sprechen, dennoch möchte er nicht schweigen. Die Verantwortlichen leben nicht mehr, Fragen hat er dennoch. Er hofft auf Einsicht in die Schriftstücke aus Elsdorf, die damals für das Jugendamt angefertigt worden waren. Bislang vergeblich.

Wie geht es mit dem Dachbodenfund weiter? Die Aufarbeitung der brisanten Akten steht in Kürze an. Auch wenn die Briefe sehr alt und teilweise vergilbt sind, ist der Bestand in einem gut lesbaren und verwertbaren Zustand. Ein einmaliger und bedeutender Fund, wissen Mitarbeiter der Landeskirche Hannover.

Derzeit wird an einem Vertrag zwischen der zuständigen Fachstelle der Landeskirche und einem externen Institut gearbeitet. Im Januar 2026 wird mit der professionellen Aufarbeitung der Akten aus Elsdorf begonnen, teilt Superintendent Carsten Stock auf Nachfrage mit.

„Es war uns wichtig, dass wir ein renommiertes Institut dabei haben“, so Stock. Der Prozess der Aufarbeitung sei auf 18 Monate festgelegt, „damit genug Zeit ist für die Partizipation von Zeitzeugen und die Auswertung von Akten.“

Personen, die sich bereits zu den Vorfällen gemeldet haben, werden demnächst persönlich angeschrieben und eingeladen, sich an der Aufarbeitung zu beteiligen.

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