TModerne „Landstreicherin“: Minimalistisches Leben in der Kutsche

Zum Genießen: der Ausblick von der Kutsche über die Kaltblüter hinweg in eine malerische Landschaft. Foto: Bellmann Foto: Bellmann
Ihr altes Leben mit Haus und Job hat sie hinter sich gelassen. Jetzt reist Wencke Bellmann mit Wohnkutsche, Pferden und Hund durchs Land. Dieses abenteuerliche Leben beschert den „vier Landstreichern“ besondere Glücksmomente.
Selsingen. Das Herzblut ist förmlich zu spüren, mit dem Wencke Bellmann über ihr minimalistisches und zugleich enorm bereicherndes Leben spricht. Die moderne Nomadin ist in wärmeren Monaten mit ihren Kaltblütern Lümmel und Elektra sowie Hündin Luna samt bewohnbarer Kutsche unterwegs quer durch Norddeutschland. Entschleunigt, stets im Hier und Jetzt.
Vor gut zwei Jahren beginnt ihr neues Leben. Sie verkauft ihr Haus in Varel in der Wesermarsch. Statt mit 120 Quadratmetern kommt sie nun mit sechs Quadratmetern Wohnfläche aus, vermisst im Grunde nichts. Ihr Plan lautet, von Frühjahr bis Herbst zu reisen. „Bis jetzt konnte ich das nicht ganz realisieren. Im ersten Jahr waren wir vier Monate unterwegs, dieses Jahr fünf Monate. Das ist aber nicht weiter schlimm, weil man in dieses Leben erst mal hineinwachsen muss.“
Mutiger Schritt aus sicherem Leben ins Ungewisse
Dass sie den mutigen Schritt aus einem gesicherten Leben heraus gewagt hat, macht sie stolz: „Manchmal sitze ich einfach nur da und denke: Was hast du hier alles auf die Beine gestellt? Es braucht eine gewisse Zeit, bis das im Kopf ankommt.“ Allein schon die Tatsache, im Besitz von zwei Kaltblütern zu sein: „Das hätte ich mir früher niemals erträumen lassen. Ich bin immer wieder fasziniert von dem, was mich umgibt, was ich kreiert habe, indem ich diese Vision habe wahr werden lassen.“

Die moderne Nomadin Wencke Bellmann erlebt mit ihren Kaltblütern Lümmel und Elektra sowie Hündin Luna abenteuerliche Zeiten bei ihrer Tour mit dem Mini-Haus auf Rädern. Foto: Danielle Lau
Die Idee entsteht am Ende der Corona-Zeit. Mit ihrem damaligen Partner reist sie per Camper durch Europa. „Ich habe dieses Reisen und das Nomadenleben auf begrenztem Raum lieben gelernt“, schwärmt Wencke Bellmann. Sie entscheidet nach dem Ende der Beziehung, diese Lebensart fortzuführen. „Aber so, dass es komplett zu meinen Bedürfnissen und Wünschen passt.“

Das Mini-Haus auf Rädern ist gemütlich eingerichtet. Foto: Bellmann Foto: Bellmann
Erwartungen an das neue Reiseleben übertroffen
Sie zieht mit Kutsche, Pferden und Hund los. Hat das neue Leben die Erwartungen erfüllt? „Sie wurden sogar übertroffen“, sagt die Nomadin lachend. „Was ich zum Beispiel niemals erwartet hätte, ist, dass mein Freundeskreis gewachsen ist, anstatt zu schrumpfen. Dass während so einer Reisezeit wirklich innige Freundschaften entstehen können.“ Wencke Bellmann trifft unterwegs viele Menschen, meist nur für kurze Zeit. „Dennoch sind da viele Freundschaften entstanden. Das finde ich bemerkenswert.“
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Wobei: Zu viele Kontakte können auch anstrengend sein, bekennt die Reisende. Das liege weniger an dem Beantworten von immer denselben Fragen, „sondern ich kann irgendwann meine eigene Stimme nicht mehr hören“, stellt sie fest. „Was ich auch unterschätzt habe, ist der Unsicherheitsfaktor bezüglich der finanziellen Situation. Die Ersparnisse schwinden.“ Als beurlaubte Lehrerin ohne Besoldung darf sie nur begrenzt dazuverdienen. Für sechs Jahre ist diese Beurlaubung möglich.
Arbeit gegen Logis auf dem Hof im Winterquartier
„Andererseits muss ich weniger erwirtschaften, weil ich nur sechs Quadratmeter bewohne.“ Ihre Lebenshaltungskosten sind deutlich gesunken. „Ich versuche sie gering zu halten, indem ich zum Beispiel während des Winterquartiers gegen Mithilfe am Hof ein kleines Zimmer oder einen Bauwagen bewohnen darf und meine Pferde einen Stall beziehen dürfen. Arbeit gegen Logis sozusagen.“ Derzeit befindet sie sich im Winterquartier: „Ich bin auf einem Demeter Milchviehbetrieb im Raum Greifswald gelandet.“ Dort fühlt sie sich wohl.

Mit dem Tiny-Haus auf Rädern ist „Landstreicherin“ Wencke Bellmann in den wärmeren Monaten autark unterwegs. Foto: Bellmann Foto: Bellmann
Was das Nomadenleben ausmacht? „Der Reiz ist auf jeden Fall das Abenteuerliche“, unterstreicht sie. „All die Dinge, die ich in den vergangenen zwei Jahren erlebt habe, hätte ich sonst niemals erlebt. Ich war an den verrücktesten Orten, habe spannende Menschen kennengelernt, wunderschöne Landschaften entdeckt. Und das alles in einem sehr entschleunigten Tempo.“ Die „Landstreicher“ fahren in der Regel drei Stunden am Tag, legen etwa 15 Kilometer zurück. Und ja: „Dass ich morgens nicht weiß, wo ich abends lande, ist ein gewisser Nervenkitzel. Wo finden wir unseren nächsten Stellplatz? Was machen wir, wenn wir nichts finden?“ Wobei das nie vorgekommen ist, wie sie sagt.

Ein idealer Rastplatz für „die vier Landstreicher", mit Weideplatz und Wasser für die Pferde, einer ebenen Stellfläche für das Mini-Haus auf Rädern. Foto: Bellmann Foto: Bellmann
Land und Leute entschleunigt kennenlernen
Reizvoll findet Wencke Bellmann das entspannte Kennenlernen von Land und Leuten, die Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft, die den „vier Landstreichern“ entgegengebracht wird. „Das hätte ich so nicht erwartet. Das ist einzigartig und eine neue Erfahrung für mich.“ Denn sie weiß: „Ich bin permanent in einer Bittstellerposition, egal ob ich nur ganz kurz irgendwo verweile oder jetzt im Winterquartier länger bin. Ich muss mich immer nach anderen Menschen richten. Das muss man erst mal erlernen.“

Mit diesem Mini-Haus auf Rädern, den beiden Kaltblütern Lümmel und Elektra sowie Hündin Luna erlebt die moderne Nomadin Wencke Bellmann abenteuerliche Zeiten. Foto: Danielle Lau
Dass sie sich auf Reisen permanent draußen in der Natur befindet, wirkt sich positiv aus: „Das tut mir physisch und psychisch unglaublich gut. Und dass ich ein enges Leben mit meinen Tieren führen kann. Die meisten Pferdebesitzer würden davon träumen, immer so nah bei ihren Pferden sein zu können.“
Nomadin erlebt besondere Momente des Glücks
Die 40-Jährige nennt Augenblicke des Glücks. Etwa, als sie ihr Winterquartier bei Greifswald findet: „Der letzte große Glücksmoment war, als ich die Familie hier am Hof kennengelernt habe und wir gemeinsam Mittag gegessen haben. Ich bin mit Gänsehaut aus diesem Gespräch gegangen, weil ich gemerkt habe, das wird hier passen.“

Das entschleunigte Reisen mit Tieren durch wunderschöne Gegenden und an frischer Luft erlaubt Wencke Bellmann außergewöhnliche Erfahrungen. Foto: Bellmann
Enorm glücklich machen sie auch Naturmomente. Etwa wenn die „Landstreicher“ einen See finden, in dem man mal schwimmen kann. „In Mecklenburg-Vorpommern habe ich viele Seen entdeckt, wo ich mit meiner Kutsche direkt bis ans Ufer fahren und mit meinen Pferden dableiben konnte. Das sind große Glücksmomente.“
Gespann löst oft Reaktionen bei Menschen aus
Wo Wencke Bellmann mit ihrem Gespann auftaucht, führt das zuweilen zu berührenden Begegnungen. „Das sieht man eben nicht alle Tage. Das löst teilweise heftige Reaktionen bei Menschen unterschiedlichen Alters aus. Ich erfahre immer wieder, dass die Leute mir sagen, dass ich sie inspiriere, ihnen Mut mache. Das ist ein großes Glück, wenn man so etwas zu hören bekommt.“

Wencke Bellmann findet auf ihrer Tour spannende Rastplätze. Foto: Bellmann
Überhaupt begegnen ihr die Menschen offen und interessiert. „Ich erlebe zu 99,9 Prozent ganz viel Interesse, Neugierde, Zugewandtheit, Zuspruch, Hilfsbereitschaft oder Gastfreundschaft.“ Das Reiseleben ermöglicht eine intensivere Beziehung mit Lümmel, Elektra und Luna. Auch wenn das „manchmal nicht nur toll“ ist, wie die Nomadin einräumt. Etwa was den Schlaf betrifft: „Wenn man so nah mit Tieren lebt, bekommt man alles mit. Man wird sehr feinfühlig und hellhörig.“ Zumal eine Stute an einer Kolik verstarb. „Aber insgesamt ist es einfach großartig, den Tieren so nah zu sein und ihre Entwicklung zu beobachten.“
Als „Landstreicherin“ zuversichtlicher geworden
Was macht das neue Leben mit ihr als Mensch? „Ich bin insgesamt zuversichtlicher geworden, fühle mich deutlich gesünder.“ Das Selbstbewusstsein wächst, „wenn man sieht, was man alles allein auf die Beine stellt“. Das minimalistische Leben gibt ihr mehr Zeit und Freiheit. „Das sind elementare Dinge, nach denen sich viele Menschen sehnen“, weiß sie.
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Wie lange Wencke Bellmann als Nomadin unterwegs sein möchte? Solange es Spaß macht und finanziell funktioniert. Für den Winter plant sie eine kleine Deutschland-Tour ohne ihre Tiere, mit Vorträgen über ihr Nomadenleben. Ein solcher findet am 9. November vor Selsinger Landfrauen in Ohrel statt. Das Publikum darf sich auf außergewöhnliche Geschichten freuen.

Wencke Bellmann erzählt am 9. November vor Selsinger Landfrauen aus ihrem Leben als Nomadin. Foto: Privat
Wencke Bellmanns Wünsche für die Zukunft? „Dass ich dieses Leben so lange wie möglich weiterführen kann und meine Tiere so lange wie möglich gesund bleiben.“ 2025 möchten die Landstreicher Masuren in Polen ansteuern.
Vortrag vor Selsinger Landfrauen
Wencke Bellmann spricht am Samstag, 9. November, ab 9.30 Uhr vor Selsinger Landfrauen und interessierten Gästen im Gasthaus Steffens in Ohrel über ihr Nomadenleben mit Pferden, Hund und bewohnbarer Kutsche. Restplätze für den Vortrag in Ohrel sind buchbar per WhatsApp oder SMS unter 0152/ 25105725.