TMultiple Sklerose: Dirk Naber kritisiert Überfürsorge vieler Menschen

Trotz Multipler Sklerose lebt Dirk Naber (59) seit Jahren allein in seiner Wohnung - aufgeben ist für ihn keine Option. Foto: Willing
Vor mehr als 30 Jahren stellte die Diagnose Multiple Sklerose das Leben von Dirk Naber auf den Kopf. Von Verlusten, neuen Perspektiven und davon, warum lieb gemeinte Hilfe manchmal zu viel des Guten sein kann.
Zeven. Dirk Naber öffnet mit einem freundlichen Lächeln die Tür zu seiner Wohnung. Seit zehn Jahren lebt der 59-Jährige hier nach eigenen Worten zufrieden und allein. Das ist nicht selbstverständlich, denn der Zevener hat Multiple Sklerose (MS) und sitzt im Rollstuhl. Dennoch meistert er seinen Alltag weitgehend selbstständig. Seit einigen Jahren muss er jedoch zunehmend auf fremde Hilfe zurückgreifen. Eine enge Freundin hilft beim Kochen und Wäschewaschen, die Haushaltshilfe greift ihm unter die Arme, und beim Duschen benötigt er mittlerweile ebenfalls Unterstützung.
Die Diagnose, die sein Leben veränderte
1994 erhielt Dirk Naber nach langer Ungewissheit die Diagnose MS. Er leidet an der schubförmigen Form der Krankheit, die schleichend fortschreitet. Die Symptome verschlechtern sich bei ihm langsam, unabhängig von den einzelnen Schüben. Der Zevener stellt gleich zu Beginn klar: „Multiple Sklerose ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung.“
MS ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmark betrifft. Je nachdem, wo im Nervensystem Schäden entstehen, können unterschiedliche Bereiche des Körpers betroffen sein. Diese Entzündungen sind oft irreversibel und führen zu bleibenden Einschränkungen - MS ist nicht heilbar.
Trotz Einschränkungen das Positive sehen
Diese Perspektive macht Dirk Naber Angst, doch aufgeben ist für ihn keine Option. „Ich bin dankbar für die 30 Jahre, die ich mit MS erleben durfte, auch wenn es ein langer, harter Kampf ist und bleibt“, sagt er. Die Diagnose hat sein Leben grundlegend verändert. Mit 32 Jahren musste er seinen Beruf als Handwerker aufgeben, nachdem er durch den vierten Schub nicht mehr arbeitsfähig war. „MS ist nicht wie ein Schlaganfall, bei dem man von hundert auf null herunterfällt. Mich hat es nicht von heute auf morgen umgehauen - ich konnte in mein neues Leben hineinfinden.“
„Blaumachen“
Hoher Krankenstand: Das sind die wahren Gründe
Trotz der Verluste, die die Krankheit mit sich bringt, sieht der 59-Jährige auch Positives: „Zwischenmenschlich bin ich definitiv gewachsen, habe andere Ansichten entwickelt und hinterfrage vieles mehr als zuvor.“ Sein früheres Hobby, das Gitarrespielen, musste er aufgeben, doch die gewonnene Empathie wurde für ihn zu einer neuen und wertvollen Charaktereigenschaft.
Wenn gut gemeinte Unterstützung zum Hindernis wird
Dennoch hat er oft mit einer bestimmten Art von Unverständnis zu kämpfen: „Es ist nicht die fehlende Hilfsbereitschaft, die mich stört, ganz im Gegenteil: Es ist die Überfürsorge, die mir das Leben schwer macht.“ Dirk Naber kritisiert die Übergriffigkeit vieler Menschen: „Ich möchte wenigstens gefragt werden, ob ich Hilfe brauche.“ Für ihn ist es wichtig, dass Menschen lernen, genauer hinzusehen und zu spüren, ob Unterstützung wirklich benötigt wird. Genauso musste auch er erst lernen, um Hilfe zu bitten, wenn er etwas nicht allein schafft. „Wir alle müssen wieder versuchen, Menschen zu lesen. Die meisten signalisieren, wenn sie Hilfe brauchen. Dafür müssen wir unsere Sinne schärfen.“
Dirk Naber möchte als Person auf Augenhöhe wahrgenommen werden. „Eine körperliche Einschränkung bedeutet nicht automatisch eine geistige“, betont er. Besonders ärgert ihn, wenn er im Alltag für geistig minderbemittelt gehalten wird. „Ich möchte beim Einkaufen an der Kasse nicht als einziger geduzt werden, nur weil ich im Rollstuhl sitze. Ein Behinderter ist nicht automatisch doof“, sagt er mit einem Augenzwinkern.
Selbstständigkeit als Schlüssel zur Lebensqualität
Auch Familienangehörige versuchten oft, ihm während Besuchen zu helfen, obwohl er ihnen immer wieder erkläre, dass er im Alltag gut allein zurechtkomme. „Nur weil etwa Weihnachten ist, ändert sich daran nichts“, sagt er. Genau diese Selbstständigkeit, die er für den Alltag dringend braucht, werde ihm durch die „Mega-Hilfsbereitschaft“, wie er es nennt, oft genommen. „Ich brauche das Training, um eigenständig zu bleiben.“
Der Zevener weiß, dass er nicht mehr ewig allein in seiner Wohnung bleiben kann. Schweren Herzens hat er bereits mit seinem Sohn über einen Umzug in ein Pflegeheim gesprochen, um in seiner Nähe zu sein. Doch solange es geht, genießt er jeden Tag, den er noch selbst gestalten kann: Er trifft sich im Café, verabredet sich mit Freunden und erledigt seine Einkäufe.
Umdenken im Umgang mit beeinträchtigten Menschen
Dirk Naber schätzt Unterstützung - solange sie nicht in Überfürsorge ausartet. Für ihn ist Selbstständigkeit essenziell. Sein Wunsch an die Gesellschaft ist klar: „Steckt mich nicht in eine Schublade. Gebt mir die Gelegenheit, selbst zu handeln - auch wenn ich manchmal etwas länger brauche. Genau das hilft mir, meine Selbstständigkeit und Fähigkeiten so lange wie möglich zu bewahren.“