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Zeitgeschichte

TReichspogromnacht in Bremerhaven: Dr. Ernst erinnert an die Ereignisse

In der Reichspogromnacht 1938 zerstörte antisemitische Gewalt auch Bremerhaven. Dr. Manfred Ernst schildert die dramatischen Ereignisse und ihre Folgen.

In der Reichspogromnacht 1938 zerstörte antisemitische Gewalt auch Bremerhaven. Dr. Manfred Ernst schildert die dramatischen Ereignisse und ihre Folgen. Foto: Archiv NWD-Verlag

Gewalt, Zerstörung und Schicksale: Dr. Manfred Ernst erinnert an die Reichspogromnacht in Bremerhaven und den Widerstand einzelner mutiger Akteure.

Von Dr. Manfred Ernst Samstag, 09.11.2024, 18:00 Uhr

Bremerhaven. Am 3. November 1938 erfuhr der 17-jährige Herschel Grünspan, der ohne Aufenthaltserlaubnis in Paris lebte, durch eine Postkarte seiner Schwester, dass seine Eltern und Geschwister mit etwa 17.000 Juden aus Deutschland an die polnische Grenze deportiert worden seien und für sie eine Aussicht auf Rückkehr nicht bestehe. Darauf kaufte er einen Revolver und schoss in der deutschen Botschaft in Paris am 7. November auf den Legationssekretär Ernst vom Rat, der zwei Tage später am 9. November 1938 starb.

An diesem Tage hatten sich im Münchner Rathaus die Führer der NSDAP, der SA und der SS um Adolf Hitler versammelt, um dessen (fehlgeschlagenen) Putschversuchs am 9. November 1923 – dem „Tag der Bewegung“ – zu gedenken. Die Nachricht vom Tod des Diplomaten veranlasste Reichspropagandaminister Joseph Goebbels zu einer Hetzrede, die ihre Wirkung auf den anwesenden Bremischen Bürgermeister Böhmker nicht verfehlte. Aus München erteilte er noch nachts telefonisch den Befehl: „Sämtliche jüdischen Geschäfte sind sofort zu zerstören. Jüdische Synagogen sind in Brand zu stecken. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.“

Oberbrandmeister warnt vor „jeglicher Brandlegung“

In Bremerhaven und Wesermünde hatten sich zur Feier des „Tages der Bewegung“ die führenden Nationalsozialisten, Kreisleiter Hugo Kühn, Standartenführer Löber, die Männer der Standarte 411, sowie der Bremerhavener Oberbürgermeister Julius Lorenzen und der Wesermünder Oberbürgermeister Dr.Walter Delius im Stadttheater eingefunden.

Nach dem offiziellen Teil trafen sich Parteiprominenz, SA, SS und weitere Parteimitglieder im „Sturmlokal“ der Standarte 411, dem Hanseatencafé in der Bürger.

Hier empfing Kreisleiter Kühn von Böhmker den Befehl, für dessen Ausführung er im Laufe der Nacht sorgte. Keinen Erfolg hatte er bei Oberbrandmeister Steiln, der sogleich nachwies, es sei unmöglich, den Brandschutz für die Stadt in dieser Nacht zu übernehmen und die anwesenden Parteifunktionäre aufforderte, „von jeglicher Brandlegung abzusehen“. Damit konnte er die für die Schocken-Kaufhäuser in Geestemünde und Bremerhaven und für Liebmanns Konfektionsgeschäft in der Georgstraße vorgesehenen Brandstiftungen verhindern, nicht aber die Plünderung dieser und anderer jüdischer Geschäfte.

Polizist nimmt in der Nacht SA-Männer fest

Nachts um 3 Uhr stand in der Schulstraße in Geestemünde die Synagoge in Flammen, sie brannte die ganze Nacht. Es hatten sich 150 Schaulustige eingefunden. Die Feuerwehr schützte nur die Nachbarhäuser und handelte damit im Sinne des Befehls des Generals der deutschen Polizei, Karl Daluege: „Am 10.11.1938 – 1.30 Uhr – werden im Deutschen Reich die Judengeschäfte spontan demoliert. Die Polizei verhält sich passiv und wendet sich ab. Wenn die Feuerwehr alarmiert wird, weil Judenhäuser brennen, so bespritzt sie die Nachbarhäuser.“

Innenansicht der ehemaligen Synagoge in der Schulstraße, das Foto stammt aus dem Jahr 1931.

Innenansicht der ehemaligen Synagoge in der Schulstraße, das Foto stammt aus dem Jahr 1931. Foto: Lotte Wolf

Kenntnis von diesem Geheimbefehl erhielt der Polizeibeamte Hanert erst am Vormittag des 10.11.1938. Schon nachts hatte er vor dem geplünderten Schocken-Kaufhaus in der „Bürger“ den Kreisleiter Kühn, den Kreisamtsleiter Lehmann, sowie etwa zwölf SA-Männer festgenommen, weil er davon ausging, dass sie die Zerstörungen bei Schocken begangen hatten. Er musste die Männer bald darauf unter dem Druck der SA freilassen.

An der Ecke Ludwigstraße / Schulstraße stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde seit 1878. Während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde sie in Brand gesetzt. Ein Gedenkstein erinnert an sie.

An der Ecke Ludwigstraße / Schulstraße stand die Synagoge der jüdischen Gemeinde seit 1878. Während der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde sie in Brand gesetzt. Ein Gedenkstein erinnert an sie. Foto: Felix Schulke

Fast alle jüdischen Männer der Gemeinde inhaftiert

Die Spur der Verwüstungen, die die SA und ihre Helfer gelegt hatten, zog sich durch die Unterweserorte von der Talstraße und Hohenstauffenstraße in Geestemünde, der Straße An der Mühle, der Schiffdorfer Chaussee, der Bürger und Kaiserstraße bis hin zu den jüdischen Geschäften und Wohnungen in der Hafenstraße, der Langen Straße und Spadener Straße in Lehe; der jüdische Friedhof in der Leher Feldmark wurde durch Beschädigung der Grabsteine geschändet.

Die SA inhaftierte während dieses Pogroms fast alle männlichen Mitglieder der jüdischen Gemeinde und misshandelte sie. Sie wurden per Viehwagen in das Konzentrationslager Sachsenhausen abtransportiert und erst nach mehreren Wochen entlassen. Schon am 11. November 1938 verordnete Oberbürgermeister Dr. Walter Delius, dass die Mitglieder der jüdischen Gemeinde die Kosten für die Beseitigung der Trümmer der Synagoge selbst zu tragen haben.

Nach dem Krieg wurden 27 Täter verurteilt

Unter dem Druck der amerikanischen Militärregierung wurden die Täter dieses Pogroms nach dem Kriege ermittelt. Das Schwurgericht verurteilte 27 von ihnen zu Freiheitsstrafen zwischen drei Monaten Gefängnis und mehr als sechs Jahren Zuchthaus. Mit einer Ausnahme zeigten sich die Angeklagten unbußfertig. (mcw)

Der Bremerhavener Jurist und Historiker Dr. Manfred Ernst.

Der Bremerhavener Jurist und Historiker Dr. Manfred Ernst. Foto: Scheschonka


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