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Interview

TSaša Stanišić: „Auch mit dem Smartphone lassen sich Geschichten erzählen“

Im September veröffentlichte Saša Stanišić sein neues Buch „Hey, hey, hey Taxi 2“.

Im September veröffentlichte Saša Stanišić sein neues Buch „Hey, hey, hey Taxi 2“. Foto: picture alliance/dpa

Kindererzählung trifft auf Digitalisierung: Erfolgsautor Saša Stanišić sieht auch in modernen Medien Potenzial für junge Geschichtenerzähler.

Von Martin Sonnleitner Sonntag, 15.12.2024, 18:00 Uhr

TAGEBLATT: Zusammen mit Ihrem neunjährigen Sohn haben Sie die beiden Kinderbücher „Hey, hey, hey Taxi!“ geschrieben. Es geht um Kakadus, Mücken, einen Drachen und ein liebenswertes Rieseneichhörnchen. Warum ist Fantasie für Kinder so wichtig?

Saša Stanišić: Fantasie hilft Kindern, Empathie zu entwickeln – sich also in andere zu versetzen und deren Sichtweisen zu verstehen. In Geschichten begegnen sie einem anderen Denken und erschaffen selbst auch Figuren, die anders denken können als sie selbst. Fantasie ist außerdem der Schlüssel, um menschliche Beziehungen zu begreifen, Dinge wie Miteinander und Toleranz. Also darüber nachzudenken, wie wir als Gesellschaft zusammenleben möchten: solidarisch oder nicht, freundlich oder nicht.

Wie ist die Idee für dieses Buch entstanden?

Auf einem chaotischen Kindergeburtstag erzählte ich spontan eine verrückte Taxigeschichte, um die Kinder zu beruhigen. Sie waren sofort begeistert und hörten konzentriert zu. Am nächsten Tag wollte mein Sohn unbedingt mehr Taxi-Geschichten hören. Daraus entwickelten sich schließlich die Bücher.

Was macht Kinderbücher so besonders?

Ich sehe da zunächst einmal keinen großen Unterschied zwischen Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbüchern. Das Handwerk ist ähnlich – es geht immer darum, eine gute Geschichte zu erzählen. Meine Kinderbücher ermutigen die jungen Leser, ihre eigenen Gedanken einzubringen. Das macht sie hoffentlich besonders spannend.

Welche Werte wollen Sie mit diesen Geschichten vermitteln?

Die zentralen Botschaften lauten: Helft euch gegenseitig und glaubt an euch und andere. In einer Geschichte kann eine Giraffe zum Beispiel schlecht singen und fühlt sich deshalb minderwertig. Ein Fahrgast ermutigt sie, sie solle sich nicht durch andere verunsichern lassen, sondern auf die eigenen Gefühle hören. So sein, wie sie eben ist. Diese Werte – Freundlichkeit, Unterstützung und Respekt – ziehen sich durch alle Taxi-Geschichten.

Wie genau erreichen Sie das bei Kindern?

Meine Geschichten stellen viele Fragen auch direkt. Da steht dann zum Beispiel: „Was bedeutet Sehnsucht für dich?“ Sie laden also ein, mit dem Text in einen Dialog zu treten. Die Dialoge haben oft eine politische oder gesellschaftliche Note. In meinem Jugendbuch „Wolf“ geht es zum Beispiel um Mobbing als Thema.

Glauben Sie, dass jedes Kind das Talent hat, Geschichten zu erzählen?

Kinder sind von Natur aus kreative Erzähler. Aber diese Fähigkeit kann verloren gehen, wenn sie nicht gefördert wird. In unserer hektischen Welt voller Ablenkungen und Verpflichtungen brauchen Kinder Raum und Anregung, um ihre Kreativität auszuleben. Man muss sie kitzeln und herausfordern, damit dies nicht verkümmert.

Welche Botschaft haben Sie an Eltern, die ihre Kinder fördern möchten?

Kunst ist eine wunderbare Möglichkeit, Kinder zu fördern – egal ob es um Literatur, Malerei, Musik oder Theater geht. Einerseits, indem man sie Künsten aussetzt, noch wichtiger aber, indem man sie darin ermutigt, selbst künstlerisch aktiv zu werden und die Welt aktiv zu gestalten, zu verändern, neu zu imaginieren. Kinder sollen also lernen, mehr zu sein als nur Zuschauer ihres eigenen Lebens.

Wie sollen Erwachsene die Kinder zum Lesen und eigene Geschichten schreiben animieren, wenn das Smartphone allseits präsent ist?

Es gibt auch gute Möglichkeiten, mit dem Smartphone Geschichten zu erzählen, es geht also darum, wie das Smartphone genutzt wird. Wenn dies nicht nur zum passiven Rezipieren von Inhalten, dem Spielen, dem Schauen von Videos und Ähnlichem genutzt wird, dann ist so ein Gerät eine große Spielwiese an kreativen Möglichkeiten, etwas zu erschaffen – vom Zeichnen über Fotografie bis zum Film.

Was haben Sie als Vater durch den Schreibprozess mit Ihrem Sohn über sich selbst gelernt?

Ich habe erkannt, dass Kinder nicht immer einfache Antworten brauchen. Manchmal wirken komplexe Themen viel länger nach, gerade weil es keine einfache oder klare Lösung gibt, kein Schwarz-Weiß.

Sie kamen mit 14 Jahren aus Ihrer Heimat Bosnien, wo Krieg war, nach Deutschland. Das Thema biografischer Zufälle spielt in Ihren Büchern eine große Rolle. Was hat Ihnen geholfen, sich hier zurechtzufinden?

Das Wichtigste zu Beginn war, mein Selbstbewusstsein zurückzugewinnen. Als Flüchtling hat man so viele Verluste: Heimat, Freunde, Routine. Man fühlt sich ständig eingeschüchtert und hat Angst, Fehler zu machen. Aber ich hatte Lehrer, die mich unterstützt haben, meine Stärken zu entdecken. Ohne sie wäre ich nicht da, wo ich heute bin. Eine gute Bildung war für mich also der Schlüssel. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass es Faktoren gibt, die wir nicht kontrollieren können. Manche Menschen starten mit besseren Ressourcen, und das macht ihren Weg einfacher.

Was hat Ihnen Literatur in dieser Zeit bedeutet?

Lesen und Schreiben waren für mich wichtige Zufluchtsorte. Schon in Bosnien war das so. Literatur hat mir ermöglicht, für ein paar Stunden aus der nicht so einfachen Realität zu fliehen und mich in andere Welten zu versetzen. In Deutschland habe ich aber auch schnell nach Büchern gesucht, die mir ähnliche Erfahrungen boten. Es hat natürlich eine Weile gedauert, bis ich auf Deutsch lesen konnte.

Wie sehen Sie die Herausforderungen zwischen Politik und individuellen Schicksalen?

Politik müsste mehr auf den Einzelnen zugehen. Mehr also das Individuum beachten und weniger pauschalisieren. Gerade beim Thema Flucht: Jeder Geflüchtete ist einzigartig, niemand flieht freiwillig. Kinder, Jugendliche, Mütter, Väter, alle haben bereits ein Leben gelebt und dieses hat verschiedene Voraussetzungen für ihr weiteres Leben geschaffen. Damit dieses weitere Leben in ihrer neuen Heimat gelingen kann, ist es wichtig, in ihre Bildung und Sprachkurse zu investieren, statt Mittel zu kürzen. Auch eine größere und gezielte kulturelle und politische Teilhabe ist wesentlich für ein gelingendes Miteinander.

In Ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ geht es um Jugendliche, die in die Zukunft blicken und sie bei Bedarf kaufen können. Ist das der Versuch, das Schicksal zu überlisten?

Nicht ganz. Die Geschichte kreist um die Erfahrung, benachteiligt zu sein – ein Thema, das viele Kinder und Jugendliche betrifft, die in prekären Verhältnissen aufwachsen. Meine vier Protagonisten, allesamt Jugendliche mit Migrationshintergrund, wissen, dass ihre Startbedingungen schlechter sind als die ihrer Altersgenossen. Aber das hindert sie nicht daran, sich Gedanken darüber zu machen, wie eine bessere Zukunft für sie aussehen könnte – und wie sie dorthin gelangen könnten.

Sind Sie ein Optimist?

Ja! Aber einer, der nicht glaubt, dass einfach alles gut werden wird, sondern dass man schon was dafür tun muss.

Zur Person: Preisträger und Fußballtrainer

Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad im heutigen Bosnien und Herzegowina geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Seine Erzählungen und Romane wurden in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Er ist unter anderem Träger des Preises der Leipziger Buchmesse (Vor dem Fest, 2014), des Deutschen Buchpreises (Herkunft, 2019) und des Deutschen Jugendliteraturpreises (Wolf, 2023). Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg. Er ist dort Fußballtrainer einer F-Jugend.

Persönlich: HSV und Rampensau

Ich liebe Hamburg, weil … es eine extrem spannende Großstadt ist, in der man für fast jedes Interesse eine Entsprechung finden kann.

HSV statt FC St. Pauli, weil … man es sich als Kind einmal ausgesucht hat und nicht mehr ändern kann.

Donald Trump als Fabelwesen wäre … ein Ork.

Einer meiner größten Kindheitsträume war … Schriftsteller zu werden!

Bei Lesungen bin ich gerne Rampensau, weil … die Leute aufmerksamer sind, wenn jemand Theater macht, statt Literatur einfach nur vorzulesen.

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