TSechstklässler bedroht Mitschüler mit Messer – Mehr Gewalt an Schulen?

Illustration: Eltern und Fachpersonen sorgen sich: Nimmt Gewalt an Schulen zu? Ein Fall in Langen bringt zuletzt Schüler und Eltern in Aufruhr.Foto: Julian Stratenschulte Foto: Julian Stratenschulte
Ein dramatischer Vorfall unter Sechstklässlern hat Schüler und Eltern des Gymnasiums Langen (Kreis Cuxhaven) kalt erwischt. Und er wirft Fragen auf: Gibt es mehr Gewalt unter Schülern? Und sinkt die Hemmschwelle? Wenn Schule zum Tatort wird.
Geestland. Ein Grundrauschen der Besorgnis von Eltern als auch Fachpersonen wird lauter. Immer mehr und immer jüngere Kinder scheinen zu Gewalt bereit. Auch in den Schulen der Region.
Kritisch blicken beide Parteien ebenfalls auf den Umgang der Schulen mit solchen Vorfällen. Was sagt die Statistik?
So viele Straftaten in Schulen gab es 2022
Im Schulkontext kam es in Niedersachsen zu 2.733 Straftaten im Jahr 2021. 2022 waren es 4.853, darunter 1.668 Fälle von Körperverletzung. Auch die Zahl der jungen Täter nahm zu. Die Werte liegen im Durchschnitt jedoch unterhalb des Niveaus von vor der Coronapandemie 2019 (6.097).
Diese Entwicklungen sind im Jahresbericht „Junge Menschen – Delinquenz, Gefährdung, Prävention“ des Landeskriminalamts, erstellt im Auftrag des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport, veröffentlicht worden.
Dieser Fall erschüttert das Gymnasium Langen
Trotzdem werden Menschen das Gefühl nicht los, dass sich etwas verändert hat.
Ein Vorfall unter Sechstklässlern erschütterte zuletzt Eltern des Gymnasiums in Langen, Geestland. Mit einem stumpfen Übungsbutterflymesser soll ein Schüler andere Schüler bedroht haben.
Schulleiterin Isabella Grüninger möchte sich zum Schutz der Beteiligten nicht äußern. Die Polizeiinspektion Cuxhaven hat den Vorfall auf Nachfrage bestätigt.
Das Personal der Schule hat am Folgetag eine Bedrohung und versuchte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil mehrerer Schüler angezeigt. Zum Ablauf des Vorfalls gibt es unterschiedliche Aussagen. Die Polizei ermittelt.

Isabella Grüninger, Leiterin des Gymnasiums LangenFoto: Arnd Hartmann Foto: Arnd Hartmann
Einordnung: So erlebt Schulpsychologie die Entwicklungen
Schulpsychologen können in der Schule bei solchen Vorfällen unterstützen und schon im Vorfeld bei Auffälligkeiten zu Hilfe gerufen werden. Mehr zur Arbeit verrät Gertrud Plasse, Leiterin des Dezernates 5 (Schulpsychologie) im Regionalen Landesamt für Schule und Bildung Hannover.
Können Sie die Zahlen des LKA aus Ihrer Erfahrung bestätigen? Insgesamt ist das Krisen- und Notfallteam der Schulpsychologie tatsächlich öfter rausgefahren als vor der Pandemie (z. B. wegen Gewaltvorfällen, Trauersituationen und Todesfällen, auch Suizide).
Woran liegt es, dass die Zahlen so in die Höhe schießen? Wir leben im Moment in einer Krise. Die Auswirkungen der Coronapandemie, bei der Familien emotional stark an ihre Grenzen gekommen sind, vielerorts wirtschaftliche Sorgen quälend gewesen sind und die viele Schülerinnen und Schüler mit großen Defiziten im Schulischen allein gelassen hat, sind dabei nur ein Aspekt. Hinzu kommt nun die Angst vor Kriegen und die Folgen des Klimawandels.
Themen, die unsere Gesellschaft in Atem hält … Nicht selten können die Kinder und Jugendlichen mit niemandem über ihre Sorgen sprechen, da auch die Erwachsenen von denselben Themen betroffen sind. Da ist also jede Menge Dampf auf dem Kessel. Wenn dann noch schulische Probleme und soziale Schwierigkeiten in der Klasse dazukommen und schlechte Vorbilder auf Social Media …
Die Hemmschwelle bei Schülern sinkt
Wie hat sich die Situation zu Zeiten vor der Coronapandemie verändert? Insgesamt haben wir gemerkt, dass vielerorts der Zusammenhalt zwischen den Menschen unter den verlorenen Monaten in der Pandemie gelitten hat und Schülerinnen und Schüler teilweise eher schlecht in ihre Klassengemeinschaft eingebunden waren. Schulverweigerung und Schulangst haben zugenommen. Auch Grenzverletzungen durch Gewalt und sexuelle Übergriffe sind häufiger gemeldet worden.
Sinkt die Hemmschwelle? Ich würde sagen, ja. Es werden mehr Vorfälle von tatsächlich nicht nur angedrohter Gewalt gemeldet und die Täter sind jünger. Das scheint wirklich eine Entwicklung zu sein, auf die hingewiesen werden muss und der wir uns als Gesellschaft stellen müssen.
Was kann der Grund dafür sein? Eine Erklärung sind Vorbilder durch unangemessene Bilder auf Social Media. Dort sehen Kinder viel Gewalt ganz ungefiltert, und es ist nicht verwunderlich, dass auch nachgemacht wird, was die Kinder dort sehen. Viele der Leserinnen und Leser machen sich keine Vorstellung davon, was Kinder auf ihren Handys den ganzen Tag lang sehen.
Vorfall in Langen verharmlost?
Zurück nach Langen: Eltern der betroffenen Kinder am Gymnasium wurden in einer E-Mail über den Vorfall informiert. Darin ist die Rede von einem Schüler, der drei Kinder in der Mittagspause mit einem stumpfen Butterflymesser bedroht habe. Er sei ihnen hinterhergelaufen und „habe den Anschein erweckt, sie damit zu verletzen“.
Ein Kind sei weggelaufen und habe nach Hilfe gesucht, eines sei ins Sekretariat gelaufen, eines habe sich in den Toiletten eingeschlossen.
Eltern fühlen sich nicht ausreichend informiert
Aus der Elternschaft regte sich Widerstand. Der Vorfall würde verharmlost. Der Täter sei schon in der Grundschule auffällig gewesen und habe das Opfer bereits länger auf dem Kieker. Er habe den Jungen zu Boden geworfen, gewürgt und gerufen: „Ich steche dich ab!“ Schlimmeres sei nur durch zwei Kinder verhindert worden, die den Täter ansprachen – was dem Opfer Zeit verschafft haben soll, zu entkommen.
Einer der Vorwürfe: Täterschutz würde wichtiger genommen als Opferschutz und die Schule würde das Ausmaß lieber unter den Teppich kehren.
Aus Perspektive des Schulfachlichen Dezernenten Wolfgang Broy hat die Schule ordnungsgemäß gearbeitet. Sie habe sich mit der Rechtsabteilung beraten und mit dem Schulpsychologischen Dienst zusammengearbeitet.
Die Kontaktbeamtin des Polizeikommissariats Geestland hat ebenfalls Gespräche in der Schule geführt. Außerdem habe es im Eilverfahren eine Klassenkonferenz mit dem Ziel einer Ordnungsmaßnahme gegeben.
Schule muss Persönlichkeitsrechte wahren
Gertrud Plasse weiß, wie sich Schulen in so einem Fall verhalten sollten.
Lieber schweigen oder offensiv damit umgehen? In der Beratung von Schulen bei Vorfällen von Gewalt und Grenzverletzungen begleiten wir die Schulen auch darin, wie mit den Dingen in der Schulgemeinschaft und Öffentlichkeit umgegangen werden soll.
Hier spielen auch die Persönlichkeitsrechte und rechtliche Fragen eine Rolle. Wichtig ist, dass die Schülerinnen und Schüler wissen, an wen man sich wenden kann, wenn man mitbekommt, dass jemand in Not ist.
Wann werden Kinder heute zum ersten Mal auffällig? Wir haben inzwischen auch schon Meldungen aus Grundschulen mit Vorfällen, die vor 15 Jahren nur aus weiterführenden Schulen kamen.
Gibt es Unterschiede zwischen den Schulformen? Nein, Gewalt kommt in allen Schulformen vor.
Können Eltern erkennen, dass ihr Kind tendenziell gewaltbereiter wird? Für die Eltern ist es am wichtigsten, den guten Draht zu ihren Kindern zu pflegen und im Kontakt zu bleiben. Sie sollen es nicht hinnehmen, wenn das Kind allein im Zimmer bleiben will und nicht zu den Mahlzeiten kommt. Wenigstens einmal am Tag sollte man die Gelegenheit nutzen und sich in der Familie erzählen, wie der Tag war und was alle gerade beschäftigt.
Gelingt dies in einer Atmosphäre, in der sich die Kinder und Jugendlichen auch trauen können, Dinge zu berichten, die sie beispielsweise im Netz erlebt haben, dann können Eltern ziemlich sicher sein, dass sie es auch erfahren, wenn eine schlechte Entwicklung stattfindet oder ins Haus steht.
Wenn sich Eltern dahin gehend Sorgen machen, was können sie tun? Sie sollten die Sorge gegenüber dem Kind aussprechen und Hilfe holen. Beratung gibt es in der Schulpsychologie, den Erziehungsberatungsstellen, beim Kinderarzt oder auf bke.de oder der „Nummer gegen Kummer“. Auch der regelmäßige Austausch mit der Lehrkraft ist sehr wichtig, denn es ist immer besser, mit mehreren Personen gemeinsam auf ein Kind zu achten.
Wie können Eltern damit umgehen, wenn ihr Kind bereits zum Täter geworden ist? Das Kind niemals fallen lassen und ihm weiterhin beistehen ist wichtig. Gerade wenn Kinder zu solchen Mitteln greifen, brauchen sie ihre Familien als Unterstützung.
Ist das häufig der Beginn einer „Täter-Karriere“? Nein, das muss nicht sein. Immer wenn im richtigen Moment reagiert wird, kann die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wieder umgelenkt werden und positiv weitergehen.
Warum verleugnen viele Eltern, wenn ihre Kinder zu Tätern geworden sind? Eltern haben in erster Linie die Emotionen des Kindes ganz nah bei sich und fühlen mit ihm mit. So wird bei jeder Konfliktsituation auch zuerst das mitgefühlt, was das Kind erlebt hat. Eltern müssen stellvertretende Hoffnung haben, dass alles am Ende gut wird und deshalb ist es auch nachvollziehbar, wenn hier Eltern eher in die positive Richtung schauen.
Fall ist dem Jugendamt gemeldet worden
Das Jugendamt ist im Fall des gewalttätig gewordenen Sechstklässlers am Gymnasium Langen informiert worden, teilt die Polizei mit. Strafrechtlich wird der angezeigte Vorfall jedoch keine Konsequenzen haben, da alle in den Sachverhalt eingebundenen Schüler bisher nicht strafmündig sind.
Die Schule soll Ordnungsmaßnahmen umgesetzt haben. Was bleibt, ist der Schreck in den Knochen und die Hoffnung der Eltern, dass sich so ein dramatischer Vorfall nicht wiederholt.