TSerienmörder Wichmann: Neue Zeugin hat sich gemeldet
Dieses ist eines der Bilder, auf dem „Anonym“ Wichmann zielsicher erkannt hat. Er habe aber eine Brille getragen. Foto: Privat
Angelika Kielmann aus Cuxhaven ist seit 1978 verschwunden. Ist eine ihrer Freundinnen dem Serienmörder vorher nur knapp entkommen? Sie hat sich jetzt nach einem Aufruf gemeldet.
Cuxland. Angelika Kielmann ist das mutmaßlich zweite Opfer in der Reihe der sogenannten Disco-Morde. Diese beginnt 1977 mit der 16-jährigen Anja Beggers aus Midlum. Sie ist seit dem 7. Oktober 1977 verschwunden. Genau acht Monate später, am 7. Juni 1978, wird Angelika Kielmann aus Cuxhaven nach einem Kneipenbesuch nie wieder gesehen. Noch weitere Mädchen verschwinden bis zum Jahr 1986, meist nach Diskothekenbesuchen. Sind es die Taten des Serienmörders Kurt-Werner Wichmann?
Wichmann hat wohl mindestens fünf Menschen getötet
Wichmann steht im Verdacht, mindestens fünf Menschen getötet zu haben. So wurde im Herbst 2017 die Leiche von Birgit Meier unter Wichmanns Garage gefunden. Sie war 1989 verschwunden. Im selben Jahr wurden zwei Paare in der Göhrde, einem Waldgebiet bei Lüneburg, getötet, per Kopfschuss. Wichmanns DNA findet sich auf dem Fahrersitz eines Autos der Göhrde-Opfer.

So berichtete die örtliche Presse über die beiden Vermisstenfälle Kielmann und Streckenbach - und die Parallelen. Foto: CN-Archiv
In der Recherche zur Verwicklung von Wichmann in weitere Taten beschäftigt den früheren Chef des Hamburger Landeskriminalamtes, Reinhard Chedor, auch ein Eintrag im Internet. Eine anonyme Hinweisgeberin in Verbindung mit dem Fall Kielmann hat sich jetzt gemeldet und liefert wichtige Details für künftige Recherchen.
Der 7. Juni 1978 ist ein Mittwoch. Die 18 Jahre alte Angelika Kielmann ist mit ihrer Schwester Karin unterwegs. Abends fahren die beiden in die Cuxhavener Innenstadt und gehen in die Disco Zur Börse.
Vermisstenfälle
T Anonymer Hinweis: Das sagt die Polizei über Spuren zum Göhrde-Mörder
Es ist nicht das erste Mal, dass sie per Anhalter fahren. Meistens mittwochs und samstags geht es in die Disco. Gegen 23 Uhr will Angelika nach Hause. Meistens fahren die Schwestern zusammen zurück. Es kommt aber auch vor, dass sie getrennt aufbrechen, auch mal, ohne der anderen Bescheid zu sagen. Wie an diesem Abend.
Angelika Kielmann wird an Kreuzung in Cuxhaven zuletzt gesehen
Karin sieht sogar noch, wie Angelika die Disco verlässt. Kurze Zeit später wird die 18-Jährige noch von einer Freundin gesehen, Angelika steht an der Kreuzung Abendrothstraße/Westerwischweg an einer Ampel. Es ist ungefähr 23.10 Uhr.
Hier verliert sich die Spur von Angelika. Die Freundin kommt um 23.45 Uhr noch mal an der Stelle vorbei, überlegt noch, Angelika mitzunehmen. Doch sie steht dort nicht mehr. In diesem Zeitraum verschwindet die 18-Jährige.

Dieses Foto zeigt Wichmann mit Brille. Hier ist er aber noch jünger, er benutzte das Bild für seinen Führerschein. Foto: Privat
Immer noch hofft die Polizei auf Hinweisgeber. Einen dieser Hinweise gibt es im Internet - von „Anonym“. Chedor versucht später dort - unter germanmissing.blogspot.com - mit der Hinweisgeberin Kontakt aufzunehmen.
Jetzt hat sich die Frau bei der NZ gemeldet. Sie erfuhr dieses Mal von dem Artikel, verbunden mit dem Aufruf der Zeitung, erst durch ihre Schwester. Chedor hat die Aussagen in dem Interneteintrag von renommierten Kriminalpsychologinnen einschätzen lassen. Die nehmen die Aussage ernst und geben den Rat, „versucht dieses Mädchen zu finden“.
Psychologen halten Aussage der Zeugin für glaubwürdig
Die jetzt gesuchte Frau macht unmissverständlich klar: „Wenn in dem Artikel der Nordsee-Zeitung nicht drin gestanden hätte, dass Polizeipsychologen meinen anonymen Post als authentisch einstufen, hätte ich mich nie gemeldet.“
Damals habe ja die Denke vorgeherrscht, dass Mädchen, die trampen, auf Abenteuer aus seien und selbst Schuld hätten. Somit hätten auch viele junge Mädchen oder Frauen „logischerweise Schuldgefühle, wenn ihnen etwas passiert“. Und wenn sie diese Schuldgefühle nicht hatten oder wütend waren, seien sie nicht ernst genommen worden.

Angelika Kielmann (18) aus Cuxhaven wird nach einem Kneipenbesuch im Juni 1978 nie wieder gesehen. Foto: Privat
Pikant in dem Zusammenhang: Auch die Polizei begibt sich offenbar nach dem NZ-Artikel auf die Suche nach „Anonym“ – und kontaktiert die Frau. Die wundert sich, wie die Polizei an ihre Handynummer kommt, will aber nach den Erfahrungen von damals nicht mehr mit den Beamten reden. Schon 1977 hatte sie sich an die Polizei gewendet, hörte aber nie wieder etwas von den Beamten. Bis heute.
„Anonym“ wählt zielsicher Fotos von Wichmann aus
Schon in dem Interneteintrag, den sie schreibt, nachdem sie einen Artikel über Wichmann in der Nordsee-Zeitung gelesen hat, beschreibt sie detailliert die Begegnung mit einem Mann, den sie zweifelsfrei als Wichmann erkennt. Aus privaten Fotos, die Wichmann zeigen, sortiert sie jetzt in einem Sahlenburger Café im Gespräch mit Chedor und in Begleitung ihrer Schwester zielsicher die Fotos aus den Jahren 1975 bis 1978 heraus.

Der frühere Hamburger LKA-Chef Reinhard Chedor ermittelt weiter im Fall des mutmaßlichen Serienmörders Kurt-Werner Wichmann. Foto: Eggeling
„Nachdem ich die Fotos gesehen habe, bin ich sicher, dass das der Mann ist, der mir 1977 beim Trampen von Cuxhaven nach Sahlenburg an die Wäsche wollte.“ Per Anhalter zu fahren, sei damals normal für sie gewesen.
Mit Angelika Kielmann (Spitzname Gelle) ist sie sogar befreundet gewesen. Oft sei man abends zusammen nach Hause getrampt. Nicht aber an diesem Abend. Ein Abend, der vor dem Verschwinden von Kielmann gewesen sein müsste, also vor dem 7. Juni 1978.
Wäre es danach gewesen, hätte sie sicherlich vor dem Hintergrund des Verschwindens ihrer Freundin mehr darauf gedrängt, dass die Polizei etwas unternimmt. Sie tippt auf das Jahr 1977, ganz sicher ist sie sich nicht. „Es war Herbst, es war kalt“, erinnert sich die Frau. Es war schon dunkel, bestimmt nach 21 Uhr, erzählt sie im Gespräch mit Chedor. Der letzte Bus war schon weg.
Die damals 15-Jährige stand im Westerwischweg gegenüber der heutigen Jet-Tankstelle. Dort in Nähe einer Bushaltestelle sind damals die jungen Leute Richtung Sahlenburg getrampt, Richtung Altenwalde stand man wenige Hundert Meter entfernt in der Abendrothstraße vor der Feuerwache. Dort, wo auch Angelika Kielmann in unmittelbarer Nähe das letzte Mal gesehen wurde. An den beiden Stellen standen häufig junge Leute, die mitgenommen werden wollten. Das war allgemein bekannt. In der Nähe waren Veranstaltungsorte wie Zur Börse, Container oder Club Hanseat.
Fahrzeug könnte auch ein Mietwagen gewesen sein
Das Fahrzeug, in das sie einstieg, war nach ihrer Meinung ein gelber Simca mit Fließheck. Er sei sehr sauber, sehr steril gewesen. Keinerlei persönliche Gegenstände. Wichmann ist ein Autonarr gewesen, er hat aber auch Fahrzeuge gestohlen oder gemietet.
„Anonym“, die auch erst mal anonym bleiben möchte, hat Wichmann als „sehr freundlich“ erlebt, der Mann sei schlank gewesen, um die 30 Jahre alt. Links gescheiteltes, blondes Haar, Brille, gepflegt, „kein Haschtyp“. Ganz nett, spießig, halblange, naturfarbene Strickjacke mit Holzknöpfen, ein Zopfmuster, welches damals modern gewesen sei.
Wichmann, zu der Zeit tatsächlich 28, fragt, wo es hingehen soll, er bietet dann an, sie bis vor die Haustür zu fahren, „obwohl ich an der Kirche aussteigen wollte“. Sahlenburger Kirche? Das ist dem Fahrer offenbar ein Begriff, er kennt sich aus. Fragt gar nicht nach, wo er langfahren muss. Der Fahrer ist bestimmt aus der Gegend, denkt sie. Mehr noch: Schon beim Einsteigen glaubt sie, ihn schon mal gesehen zu haben. Bei einem Discoabend der Tanzschule Beuss. Insgesamt ist er nicht sehr gesprächig.
Der Täter will das Mädchen direkt nach Hause bringen
Da es regnet und kalt war, nahm die Cuxhavenerin das Angebot an, nach Hause gefahren zu werden. Sie habe damals in der Sahlenburger Heide gewohnt, also ziemlich abgelegen, etwa 1,5 Kilometer durch einen Feldweg. Angelika Kielmann wohnte auch ganz in der Nähe.
Sie sagte ihm, wo er langfahren muss. Die Gegend wurde immer einsamer, unterwegs hielt der Mann plötzlich an und wurde aufdringlich, er wollte „schmusen“, beugte sich zu ihr rüber und begrapschte sie überall. Sie „flippte total aus“, trat und schlug um sich, zerkratzte ihm auch das Gesicht. In diesem Moment kam ihr Bruder von hinten auf einem Motorroller Richtung Haus der Eltern angefahren – und rettete sie vor einer möglichen Vergewaltigung, vielleicht vor mehr.
Das Motorengeräusch hörte Wichmann offensichtlich, sie nicht – schon damals konnte die junge Frau nicht gut hören. Der mutmaßliche Serienmörder forderte sie auf auszusteigen. Anja sprang aus dem Auto. Der Mann wendete dann aber ohne große Eile und fuhr „normal“ zurück. Nur nicht auffallen. Deshalb begriff ihr Bruder die Situation erst auch nicht sofort. Bis seine Schwester ihn aufklärte.
Polizei scheint sich für den Vorfall nicht groß zu interessieren
Sie erzählt weiter, dass sie von zu Hause aus die Polizei rief, die gekommen sei. „Bis heute habe ich die Behandlung der beiden Beamten nicht verwunden. Ich sollte ganz genau beschreiben, wo er mich überall begrapscht hat, als wenn sie sich daran hochziehen wollten.“
Ob er ihr zwischen die Beine oder an die Brust gefasst habe. Da er nicht unter die Kleidung gefasst habe, liege auch keine versuchte Vergewaltigung vor, bekam sie zu hören. Die Polizei habe sogar gefragt, ob ihr Bruder etwas mit dem Vorfall zu tun habe. Neben dem Desinteresse habe sie auch das sehr geärgert.
Sie sei sich „heute noch sicher, dass sie ihn gekriegt hätten, wenn sie mich ernst genommen hätten, zumal ich Aussehen, Bekleidung und Auto - bis auf das Kennzeichen - gut beschreiben konnte. Es kommt ziemlich viel wieder hoch, wenn ich Fotos und Zeitungsartikel sehe, nach meinen Erfahrungen werde ich mich jedoch nicht bei der Polizei melden, ich hab mich damals sehr beschmutzt gefühlt“. Man hätte die Tat an Angelika Kielmann verhindern können, ist sie sich sicher. Warum habe sich die Polizei danach nicht an ihren Vorfall erinnert („da war doch mal was“)?
Gut ein Jahr nach dem Verschwinden von Angelika Kielmann verschwand wieder ein Mädchen. Seit dem 16. Mai 1979 wird Anke Streckenbach (19) aus Cuxhaven-Altenwalde vermisst, auch nach einem Kneipenbesuch. Der Fall weist viele Parallelen zu Angelika Kielmann auf. Wieder ist es die Disco Zur Börse, wieder liegt der Zeitpunkt des Verschwindens zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Wieder ist es die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag. Um 23.30 Uhr wurde sie an der Feuerwache gesehen, vermutlich wollte auch sie nach Hause trampen.
In Cuxhaven kennt sich Wichmann ganz offensichtlich gut aus
Wichmann hat zwischen 1975 und 1978 meistens in Linkenheim-Hochstetten im Landkreis Karlsruhe gelebt, im Haus seiner Freundin, die er durch eine Kontaktanzeige während einer Haft kennengelernt hat. Diese bestätigt später aber, dass man immer wieder Besuche in Wichmanns Heimatort Lüneburg gemacht habe. Sie sei oft weiter zu Verwandten nach Schleswig-Holstein gefahren, er sei bei seinen Eltern in Lüneburg geblieben.
Chedor: „Mir erscheint es plausibel, wenn Wichmann seinem ,Jagdinstinkt folgt‘ und dem nicht unbedingt im Raum Lüneburg nachgeht. Er war nach einem versuchten Mord an einer Anhalterin im Raum Lüneburg gerade erst am 3. März 1975 aus der Haft entlassen worden. Da bot sich der Raum Cuxhaven eher an. Hier kannte er sich offensichtlich aus und wäre dort als Täter nicht unmittelbar zu verorten.“ Mittlerweile haben mehr als 20 Frauen über Begegnungen mit Wichmann im Landkreis Cuxhaven berichtet.
„Anonym“ war übrigens auch in der Zeit nach der unheimlichen Begegnung mit Wichmann aufs Trampen angewiesen („ich hab mich immer stark gefühlt“), hatte aber immer ein Messer und Tränengas dabei. In einer vergleichbaren Situation „hätte ich dem Typen die Eier abgeschnitten“.