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Nachbarkreise

TWenn der Senioren-DJ zur Disco aufspielt, tanzen selbst die Pflegeschüler

Boris André Trawka tanzt und singt zweimal wöchentlich mit den betagten Heimbewohnern

Boris André Trawka tanzt und singt zweimal wöchentlich mit den betagten Heimbewohnern Foto: ULLA HEYNE

DJ Hubert Wittig sorgt im Rotenburger Seniorenheim mit Schlagern und Volksmusik für Abwechslung. Sogar die Pflegeschüler tanzen mit.

Von Ulla Heyne Sonntag, 07.12.2025, 10:50 Uhr

Rotenburg. Aus dem Erdgeschoss des großen Hauses in der Glockengießerstraße dringt laute Musik. Durch die beschlagenen Scheiben lassen sich tanzende Menschen erahnen. Dem Eintretenden beschlägt die Brille. Offenbar ist nicht nur Hubert Wittig auf Betriebstemperatur.

Wittig sitzt am Eingang hinter zwei Monitoren und ein paar Reglern, vor sich ein Mikrofon, daneben Kopfhörer, um in die nächsten Lieder reinzuhören. Seine 84 Jahre sieht man dem Mann im Rollstuhl nicht an. Seit er 18 ist, legt er auf, „aber nur als Hobby“ - bei Geburtstagen, Hochzeiten, „aber heute nur noch selten“, erzählt er. Heute war der Weg zu seinem ehrenamtlichen Einsatz kurz, er wohnt hier im „Haus Stadtgarten“. Die ausliegenden Wunschlisten mit Titeln, insgesamt mehr als 600, guckt sich kaum einer der Gäste an. „DJ W.“, so Wittigs Künstlername, weiß auch so, was die Tanzfläche vollmacht: Volkslieder, vor allem aber Schlager, „alles mit Rhythmus“. Gerade läuft „Die lustigen Holzhackerbuam“.

DJ W. weiß, was sein Rotenburger Publikum hören will

An den langen Tischen auf denen Kaffee und Kuchen stehen, sind etliche Plätze leer, dafür ist die Tanzfläche gut gefüllt. Junge Menschen tanzen mit Älteren, einige im Rollstuhl, andere noch gut zu Fuß. „Ich weiß, was Frauen wünschen“, schmunzelt der weißhaarige Mann mit dem wachen Blick. „Eben so´n Tüddel“, und zeigt auf das nächste Lied auf seinem Bildschirm: „Anton aus Tirol.“ Er selbst hört lieber Rockiges.

DJ Hubert Wittig weiß, welche Lieder die Tanzfläche füllen. Der 84-Jährige wohnt selbst im „Haus Stadtgarten“.

DJ Hubert Wittig weiß, welche Lieder die Tanzfläche füllen. Der 84-Jährige wohnt selbst im „Haus Stadtgarten“. Foto: ULLA HEYNE

Mittendrin ist Justin Kpehougnon. Der Pflegeschüler im zweiten Lehrjahr hält einer Dame auffordernd die Hände hin. Ein Lächeln huscht ihr übers Gesicht, bereitwillig lässt sie sich zur Tanzfläche lotsen. Auch der 25-Jährige strahlt. Manche müsse man auffordern, „aber dann machen sie auch mit“, weiß er. Seit knapp drei Jahren ist der junge Mann aus Benin in Deutschland, bisher kannte er an deutschen Liedern nur „Griechischer Wein“. „Es ist schön, die alten Lieder kennenzulernen“, findet der Schüler zur Pflegefachkraft.

Kpehougnon ist heute zum ersten Mal bei einem Tanzcafé des Demenznetzwerks dabei. Er habe sich das trauriger vorgestellt, und ruhiger: „Ich hätte nicht gedacht, dass die Leute so gute Laune haben.“ Dazu tragen er und seine Kolleginnen und Kollegen, allesamt im zweiten Ausbildungsjahr, maßgeblich bei. Die Handvoll angehender Pfleger macht Stimmung, manche hätten das Zeug zum Animateur. Einige tanzen mit zwei Bewohnern gleichzeitig, andere setzen sich zwischen die Kaffeegäste und schunkeln mit. Eine ältere Dame im Rollstuhl klopft begeistert mit ausladenden Gesten den Takt auf den Tisch, bei „Hände nach oben“, recken sich die Arme in die Höhe.

Pflegeschüler helfen bei der Disco im Seniorenheim und fordern die Bewohner zum Tanzen auf.

Pflegeschüler helfen bei der Disco im Seniorenheim und fordern die Bewohner zum Tanzen auf. Foto: ULLA HEYNE

Musik, Rhythmus, das ist bei den meisten noch nicht verschüttet wie die Worte oder die Erinnerung. „Das ist beim Menschen tief verankert, das Gefühl für Rhythmus bleibt“, weiß Ulrike Horn vom Sozialdienst des Hauses, die die Koordination externer Ehrenamtler übernimmt. „Immer wieder sonntags kommt die Erinnerung“, schallt es aus den Lautsprechern. Das passt, „Musik ist ein guter Zugang“, so Horn.

Bewegung und Zugewandtheit tun den Senioren gut

„Einige, die sonst kaum ein Wort sagen, singen das ganze Lied mit oder zumindest den Refrain“, berichtet Boris André Trawka. Er tanzt und singt je einmal pro Woche mit den Bewohnern der Demenzstationen. Das hier sei aber noch einmal etwas anderes, „ein echter Höhepunkt, auch dank der vielen Freiwilligen, die auf die Bewohner zugehen können.“ Der Umgang mit Menschen mit Demenz, „das ist zu 90 Prozent Beziehungsarbeit, ein Lächeln, Zugewandtheit, eine Umarmung.“ Musik sei ein Schlüssel, „aber gezielt, Teehausmusik zur Kaffeezeit oder eben beatlastige Schlager wie heute.“ Dazu kommt die Bewegung, die gut tut. Viele der Damen hier seien auch gute Fußballerinnen, „der Impuls, gegen einen Ball zu treten, bleibt!“

Bei der Polonaise kommt Bewegung in die Veranstaltung.

Bei der Polonaise kommt Bewegung in die Veranstaltung. Foto: ULLA HEYNE

Um die Wirkung der Musik weiß auch Jörg Struwe, der sich hier ehrenamtlich engagiert. Seine Mutter wohnt seit eineinhalb Jahren auf der Demenzstation, unlängst ist er zum Bewohnerfürsprecher gewählt worden, einer Schnittstelle zwischen Heimleitung und Angehörigen. Plätze wie der seiner Mutter, die nach einem Sturz in die Kurzzeitpflege hierherkam, sind rar, sie hätten Glück gehabt.

Die Bewohner danken mit Blicken oder einem Lächeln

Mit seinem ehrenamtlichen Engagement, das mit Spaziergängen mit den Bewohnern anfing und inzwischen auch gemeinsames Singen umfasst, will Struwe etwas zurückgeben. Einseitig sei die Kommunikation aber nicht: „Das ist natürlich nicht so wie bei der Feuerwehr, wo die Leute sich bedanken, wenn du ihr Haus gelöscht hast“, erklärt der 61-Jährige, „aber es gibt Blicke oder mal ein Lächeln.“

Psychosoziale Aspekte von Demenzerkrankungen seien lange zu kurz gekommen, erklärt Mediziner Thomas Lichte, der das Demenznetzwerk mit ins Leben gerufen hat und die Idee von Olaf Abraham zum Demenzcafé maßgeblich vorantreibt. „Ein Erlebnis für alle“, findet er, auch für die Pfleger und Angehörigen, die die Betroffenen oft ganz anders wahrnehmen: „Angehörige sind oft überrascht, was für Ressourcen noch da sind und über die Musik angesprochen werden“, so der Lauenbrücker.

Etwa zehnmal gab es die etwas andere Disco schon, allein in diesem Jahr dreimal. Sonst sind auch einige Externe, Privatpersonen oder Bewohner aus anderen Einrichtungen dabei. Heute sind die Rotenburger fast unter sich. Der Transport, die Begleitung – all das will koordiniert werden. Gar nicht so einfach in Zeiten der Personalknappheit. So sind heute knapp 30 Senioren dabei, es ist vergleichsweise ruhig. Nicht jedoch auf der Tanzfläche. Zu Bryan Adams bildet sich eine Polonaise, von einem Rollstuhl angeführt, quer durch den Saal.

Nach zwei Stunden ist die Luft raus. Viele der Bewohner rollen zum Fahrstuhl, ein seliges Lächeln im Gesicht. „Den Menschen kleine Momente des Glücks geben“, wie Trawka es formuliert, das habe heute funktioniert. Nur DJ W. ist etwas enttäuscht - er hätte gern noch weiter gemacht. (bal)

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