TWie Tjark Schimmel nach einer Hirnblutung zurück ins Leben segelt
Tjark Schimmel (links) und Fiete Kruck vom Wassersportverein Wulsdorf sind deutsche Meister im Segeln in einer besonderen Disziplin geworden. Foto: Jürgensen
Vor zwei Jahren erleidet Tjark Schimmel eine Hirnblutung – mit 15 Jahren. Seitdem sitzt der Bremerhavener im Rollstuhl, kämpft sich zurück ins Leben. Warum gerade das Segeln ihm dabei hilft.
Bremerhaven. Für Tjark Schimmel und seine Familie gibt es ein Leben davor - und danach. Es geht um den 2. Januar 2022. An jenem Tag erleidet der damals 15-Jährige wie aus dem Nichts ein Hirnaneurysma, das eine Hirnblutung auslöst.
Ein künstliches Koma und eine komplizierte Operation folgen. Für seine Eltern, Geschwister, Verwandte und Freunde eine Zeit des Bangens und Hoffens. Dass er sich nicht nur wieder mühsam, aber stetig ins Leben zurückkämpfen würde, sondern rund zwei Jahre später auch Erfolge im Segeln feiert, seiner Leidenschaft seit Kindertagen, grenzt nahezu an ein kleines Wunder.
Tjark und sein Sparringspartner setzen sich gegen 14 internationale Teams durch
Denn der heute 17-jährige Tjark Schimmel und der ein Jahr jüngerer Fiete Kruck vom Wassersportverein Wulsdorf sind jüngst deutsche Meister im Segeln in einer besonderen Disziplin geworden: Bei der inklusiven Meisterschaft (IDM) starten Sportler mit Handicap - und die beiden Bremerhavener segelten auf dem Chiemsee in Bayern allen davon.
14 Teams aus Deutschland, Österreich und Belgien nahmen teil und segelten insgesamt 42 Wettfahrten. Je ein Athlet mit und einer ohne Beeinträchtigung bildeten eine Crew. Schon nach dem dritten Wettfahrttag lagen die beiden Jugendlichen vorn - und holten sich am Ende den Titel.
Tjark sitzt in einer speziellen Sitzschale im Boot
Von diesem Erlebnis berichtet Tjark, während er im Rollstuhl am heimischen Esstisch sitzt. „Damit haben wir niemals gerechnet“, sagt der Jugendliche stockend, denn das Sprechen fällt ihm sichtlich schwer. Die Hirnblutung hat bei ihm unter anderem eine Sprachstörung und linksseitige Lähmung mit Spastiken ausgelöst.
Während er bei dem Rennen im Zwei-Personen-Boot als Vorschoter fungierte, also die Vorsegel mit seiner rechten Hand bediente, nahm sein Freund Fiete die Position des Steuermanns ein. Bei der Regatta hat er seinen Rollstuhl kurzerhand gegen eine spezielle Sitzschale im Boot getauscht. „Die ist dafür da, dass Tjark nicht nach jeder Wende die Seite tauschen muss“, erklärt Papa Malte Schimmel und Tjark nickt zustimmend.
Traum von der Jugend-WM platzt jäh
Tjarks Eltern sagen, dass er im Team „youngster“ niemand Besseres als Fiete an seiner Seite hätte haben können. „Fiete ist ein Naturtalent, kennt Tjark bereits sehr lange und hat ihm nach seiner Zwangspause ganz viel Taktik beigebracht“, freut sich Mama Stephanie Schimmel.
Und auch der 17-Jährige weiß als ehemaliger Landeskader-Segler, wovon er spricht. Vor seiner Erkrankung hatte er zusammen mit Fiete gerade die Cadet-WM 2021 auf dem Gardasee bestritten. Zur großen Freude aller konnten sich die beiden für die Jugend-WM 2022 in Australien qualifizieren. Doch dann durchkreuzte das Aneurysma nicht nur seine sportlichen Pläne, sondern brachte Tjarks Leben in Gefahr.
Sport gehört zu Tjarks‘ Lieblingsfächern
Bis zum 2. Januar 2022 ist die Welt von Familie Schimmel in Ordnung. Tjark und seine beiden Schwestern Merle und Luna sind gesund und fröhlich, besuchen das Gymnasium Langen. „Sport gehört neben Mathematik und Naturwissenschaften zu meinen Lieblingsfächern“, erzählt Tjark.
Gerade noch genoss er allein zu Hause die Weihnachtsferien, da merkte er: „Irgendetwas stimmt nicht.“ Alles, vor allem seine Beine, hätten gekribbelt, seine Stimme sei nur noch ein Nuscheln gewesen, ihm wurde übel. Er schaffte es gerade noch, seine Eltern anzurufen, die sofort reagierten und einen Krankenwagen riefen.
Nach der ersten Diagnose Hirnaneurysma im Klinikum Bremerhavener wurde Tjark zur weiteren Behandlung in ein Spezialkrankenhaus nach Essen geflogen; es folgte eine zehnstündige OP, um die Blutung im Gehirn zu stillen. „Kaum auszuhalten“, sagen die Eltern leise.
Nach einem Jahr in der Klinik ist Tjark wieder zu Hause
Es sollte insgesamt ein ganzes Jahr dauern, bis ihr Sohn nach Klinikaufenthalt und anschließender Reha wieder nach Hause in Speckenbüttel zurückkehren würde - mit vielen neuen „ersten Malen“ im Gepäck: so wie „der böse Blick“ am 9. Februar 2022 beim Lagern im Krankenbett, ein Fingerzeig in Richtung große Schwester drei Wochen später oder das deutliche „Mama“ aus seinem Mund Ende März.
Trotz der gewohnten Umgebung ist heute vieles anders. „Tjark braucht rund um die Uhr Betreuung“, sagen seine Eltern. Das sei besonders für einen Teenager nicht immer leicht. Doch dafür, dass er nach dem Erwachen aus dem Koma einzig selbstständig atmen konnte und alles andere erst wieder lernen musste, habe er bis heute schon ein ganz großes Stück geschafft, fügen sie bestimmt hinzu. Für diese Aussage ernten sie von Tjark ein „Daumen hoch“.
Wir haben mehr oder weniger eine Routine, aber von Alltag würde ich bisher nicht sprechen
Malte Schimmel, Tjarks Vater
Überhaupt versucht die gesamte Familie eher im Hier und Jetzt zu leben - und hat damit alle Hände voll zu tun. „Wir haben mehr oder weniger eine Routine, aber von Alltag würde ich bisher nicht sprechen“, erklärt Malte Schimmel.
Bis zu den Ferien hat Tjark dreimal in der Woche die Seeparkschule in Debstedt besucht, die restliche Zeit wird für unterschiedlichste Therapien genutzt - von Bobath- über Hippo- bis zu Ergo- und Logo.
Die freie Zeit, die ihm dann noch bleibt, verbringt der 17-Jährige auf dem Wasser - gerne auch mit Papa an Bord - oder mit Schlagzeugspielen, Lego bauen oder Nintendo Switch spielen. „Tjark hat mit acht Jahren mit der Optimisten-Jolle angefangen“, sagt Vater Malte Schimmel.
Was dem 17-Jährigen schwerfällt
„Ich glaube, weil ich ‚Fluch der Karibik‘ so toll fand“, erzählt Tjark und grinst. Malte Schimmel ist heute froh um die damalige Sportwahl, denn er findet, dass der Segelsport inklusiv gut aufgestellt ist. „Segeln bewegt alle, die nicht bettlägerig sind“, fasst er zusammen.
„Ich segel jetzt unter anderen Bedingungen“, sagt Tjark. „Und das macht mir auch immer noch Spaß, ist aber nicht dasselbe wie früher“, ergänzt er traurig. Natürlich bemerke er, dass er nach seinem Aneurysma nun Schritt für Schritt wieder in seinen Sport zurückkehre, aber immer die nötige Geduld aufzubringen, falle ihm schon häufig schwer, gibt er zu: „Ich bin halt eben sehr ehrgeizig.“
Diese Eigenschaft kommt dem Teenager aber auch zugute: Sein aktuelles Ziel ist es, wieder selbstständig mit Stock laufen zu lernen und Treppen zu steigen. Seine Eltern glauben fest an ihn, schließlich hätten sie auch nicht gedacht, dass „Tjark so schnell wieder auf dem Liegefahrrad durch den Park düst“, sagen seine Eltern lachend.
Nach den Ferien steht eine große Veränderung an
Nach den Sommerferien steht dann eine große Veränderung an: Tjark wird ein Internat für Kinder und Jugendliche mit Körperbehinderungen in Raisdorf bei Kiel besuchen. Den Grund dafür schreibt er auf eine kleine Tafel, die er nutzt, wenn ihm das Sprechen auf Dauer zu anstrengend wird: Er möchte seinen Schulabschluss nachholen. Auch, um seinen Traum nicht aus den Augen zu verlieren: Zahnmedizin studieren.
Der Standort an der Ostsee ist für Tjark perfekt. Zum einen, weil es nicht allzu weit weg von zu Hause entfernt ist, um die Wochenenden dort zu verbringen. Doch ebenso wichtig ist dem Schüler, dass der Deutsche Segler-Verband ihm bereits Trainingsmöglichkeiten herausgesucht hat. „Die Physik des Segelns zu sehen, zu erleben und zu verstehen, ist für mich das Größte“, sagt Tjark.
Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit der Nordsee-Zeitung erschienen.