TArchäologe löst das große Rätsel der Seefahrtschule in Grünendeich
Dr. Sebastian Ipach klettert nach oben. Zu erkennen ist das Turmfundament der alten Sternwarte mit der Vertiefung für ein Wendeltreppenauflager und der Kerbe der ersten Treppenstufe. Foto: Vasel
Der Baumeister eines prächtigen Welfenschlosses hat auch die Seefahrtschule in Grünendeich errichtet. Die Indizien sprechen für sich.
Grünendeich. Wer war der Baumeister der Alten Seefahrtschule von 1858? Das war bislang unbekannt. Doch der Archäologe Dr. Sebastian Ipach hat eine heiße Spur und wartet mit einer Sensation für Architekturhistoriker auf. Die Krux: In den alten Bauakten und Bauplänen gibt es keine Hinweise auf den Architekten.
Detektiv der Vergangenheit: Dr. Sebastian Ipach vermisst die Rundbogenfenster des Altbaus. Foto: Vasel
In detektivischer Kleinstarbeit hat Ipach, der seit 2023 die Geschäftsstelle der Arbeitsgemeinschaft Maritime Landschaft Unterelbe (MLU) leitet, den denkmalgeschützten, dreigeschossigen Altbau vermessen und sich durch die Archive gegraben. Im Zuge seiner Recherche stellte er fest: „Unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erweist sich die Quellenlage mehr als problematisch.“ Die Seefahrtschule, so ein erstes Ergebnis, sei „wahrscheinlich einer der ersten Vertreter des Historismus im Alten Land gewesen“.

Dr. Sebastian Ipach öffnet die Tür der Alten Seefahrtschule von 1858, heute liegt diese im Inneren. Foto: Vasel
Dieser Architekturstil dominierte in Deutschland zwischen 1840 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, und so steht auch der Bau mit dem vorspringenden Gebäudeteil in der Mitte der Hauptfassade für den Übergang vom Rundbogenstil (Neoromanik) zur Neogotik.
Ipach hat Höhe und Breite des mittigen Risalitbaus untersucht. Das Verhältnis entspricht dem Goldenen Schnitt. Deshalb werden Altländer diesen Neubau um 1858 als „besonders schön und harmonisch empfunden haben“. Um- und Einbauten haben den Charakter des Gebäudes stark verändert.

Die Wände wurden 1858 in Blau gestrichen. Foto: Vasel
Im Jahr 1958 wurde die Schule um Kapitänsbrücke, Klassenräume und Planetarium erweitert. 1970 erfolgte der Abbruch der Dachterrasse mit dem Turm für die Sternenbeobachtung, das heutige Flachdach wurde errichtet. Reste des massiven Turmfundaments sind heute noch auf dem Dachboden zu erkennen. Bekrönt wurde der Turm von einem Fahnenmast, an dem der Red Ensign (Handelsflagge) des Königreichs Hannover wehte.
Gotik-Fundi baute Seefahrtschule und Fürstenschloss
Doch wer baute die Schule? Ipach geht davon aus, dass der Plan für die Navigationsschule des Königreichs Hannover in der Residenzstadt entworfen worden ist - und der damalige Oberbaurat Bernhard Hausmann seine Hände im Spiel hatte. Weil Hausmann als Kaufmann und Buchbinder nicht vom Fach war, wird ein Fachmann den Bau konzipiert haben. Ipach geht davon aus, dass es der Architekturprofessor Conrad Wilhelm Hase (1818-1902) war. Dieser prägte die Hannoversche Bauschule.

Bahnhof in Nordstemmen (1853/1854) von Conrad Wilhelm Hase. Foto: Archiv
Der von Hase errichtete neogotische Bahnhof in Nordstemmen (1853/1854) fiel deutlich opulenter als der Altländer Bau aus. Doch das Bahnhofsgebäude weist laut Ipach „starke Ähnlichkeiten mit der nüchternen Alten Seefahrtschule“ in Grünendeich auf.

Navigationsschule: Blick auf eine alte Darstellung der Seefahrtschule in Grünendeich. Foto: Vasel
Aufgrund der zeitlichen Nähe liege es nahe, dass derselbe Architekt seine Hände im Spiel hatte und Oberbaurat Bernhard Hausmann auf dessen Expertise gesetzt habe.

Conrad-Wilhelm Hase (1818-1902). Foto: Archiv
Hase zählte zu den einflussreichsten deutschen Architekten seiner Zeit. Mit dem Museum für Kunst und Wissenschaft und der Christuskirche errichtete er in Hannover bedeutende Programmbauten des Historismus. Er entwarf für die Welfen die Marienburg als Fürstenschloss. Hases Architekturstil war von der mittelalterlichen Backsteingotik geprägt, er plante mehr als 340 Bauwerke im Stil der Neugotik - darunter über 100 Sakralbauten. Die Gotik betrachtete er als den eigentlichen christlichen Baustil.

Das Schloss Marienburg südlich von Hannover und die Alte Seefahrtschule haben einen gemeinsamen Architekten. Foto: Moritz Frankenberg/dpa
Ipach hofft, dass in irgendeinem deutschen Archiv noch die Hase-Pläne schlummern. Für ihn ist das Haus am Elbdeich ein architektonischer Spiegel historischer Prozesse von 1858 bis heute.
Alte Seefahrtschule
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Im Jahr 1845 war gesetzlich festgeschrieben worden, dass auf den hannoverschen Schiffen allein noch die Schiffer und Steuerleute ihren Dienst ableisten durften, die ein Steuermannszeugnis des Königreichs nachweisen konnten. Altländer Schiffer transportierten Nahrungsmittel wie Vieh, Obst und Getreide sowie Baumaterialien wie Ziegel auf ihren Schiffen nicht nur nach Hamburg, sondern waren Mitte des19. Jahrhunderts weltweit unterwegs.

Dachbodenfund: Dr. Sebastian Ipach hält den alten Fahnenmast der Seefahrtschule in seinen Händen. Foto: Vasel
Geschäftstüchtige Kapitäne wie Peter Porath erkannten die Chance. Seine private Schule in Cranz platzte bald aus allen Nähten, wurde als königliche Navigationsschule ein Teil der öffentlichen Bildungslandschaft und schließlich zur Keimzelle der Grünendeicher.
Regierungsrat Rudorff aus Jork eröffnete diese im Januar 1859 - abgesegnet durch einen Erlass von König Georg V. Kapitän Porath war lange auf Schiffen der Niederländischen Ostindien-Kompanie gefahren. Später stand er im Dienst des Reeders Johann Pickenpack aus Neuenfelde. Dieser unterstützte später die Schule - unter anderem stiftete er den Fahnenmast mit dem Monogramm „JP“. Im Jahr 2002 schloss die Schule, Ipach bewahrt ihr Erbe.
Lesetipp: Mehr Altländer Geschichte(n) aus Grünendeich, Jork und Cranz gibt es im neuen Jahrbuch. Erhältlich ist das 141 Seiten starke, illustrierte Jahrbuch des Altländer Archivs und des Museums Altes Land für zehn Euro im Museum in Westerjork, in der Tourist-Info in Osterjork und in der Drogerie Hubert in der Bürgerei in Jork.
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Fischer mit Netz? Hier hinterließen Handwerker im 19. Jahrhundert ihre Spuren. Foto: Vasel