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Zeitgeschichte

TGräuel, Krieg, Vertreibung: 90-jährige Apenserin erinnert sich an Flucht aus Pommern

Erika Dammann bewahrt viele Erinnerungen in ihren Fotoalben auf.

Erika Dammann bewahrt viele Erinnerungen in ihren Fotoalben auf. Foto: Laudien

Krieg, Vertreibung, Flucht: Erika Dammann gehört zu den Zeitzeugen, die 1945 in Richtung Westen fliehen mussten. Heute, am Internationalen Frauentag, feiert sie ihren 90. Geburtstag. Welche Erinnerungen sie geprägt haben und wie sie nach Apensen kam.

Von Susanne Laudien Freitag, 08.03.2024, 09:50 Uhr

Apensen. „Sie ist sparsam, aber auch stark“, sagen die Söhne über ihre Mutter. Ihre dramatische Flucht aus Hinterpommern als Kind im Alter von zehn Jahren hat Erika Dammann maßgeblich geprägt. Heute, am Internationalen Frauentag, feiert sie ihren 90. Geburtstag in der Seniorenresidenz Delmer Hof in Apensen.

Erika Dammann ist eine starke und aktive Frau. Selbst im hohen Alter nimmt sie an etlichen Angeboten der Einrichtung teil und hat sich sogar zum Englisch-Kurs für Fortgeschrittene bei der VHS angemeldet. Die 90-Jährige zählt aber auch zu den wenigen Zeitzeugen, die noch über den Zweiten Weltkrieg mit seinen Gräueltaten, Vertreibung und Flucht persönlich berichten können. Erika Dammann steht für viele Mädchen und Frauen, die einst ums Überleben kämpften. Sie ist eine von den rund 14 Millionen Deutschen, die aus ihrer Heimat im Osten vertrieben wurden und flüchten mussten.

Behütete Kindheit: Erika beim Reiten auf dem Gutshof in Amalienruh.

Behütete Kindheit: Erika beim Reiten auf dem Gutshof in Amalienruh. Foto: Brentzel

Als Älteste von drei Geschwistern ist Erika Dammann 1934 in Hinterpommern geboren und verbrachte die ersten Jahre ihrer Kindheit auf dem feudalen Gutshof der Eltern in Amalienruh, einem kleinen Dorf östlich der Oder, das heute zu Polen gehört. Die Familie Brentzel besaß Ländereien, betrieb Ackerbau und Viehzucht und hatte Landarbeiter. Erika liebte Pferde und ging in die Dorfschule. Da ihre Eltern großen Wert auf Bildung legten und Erika den Gutshof übernehmen sollte, wechselte sie auf eine bessere Schule in Neustettin. „Eine Kreisstadt wie Stade“, erzählt die 90-Jährige.

Traumatisiert von Vergewaltigungen

„Als die Russen im letzten Kriegsjahr 1945 immer näher rückten, sagte mein Vater, wir müssen hier weg“, erinnert Erika Dammann. Sie konnten nur das Nötigste mitnehmen und machten sich mit Pferd und Wagen mit acht Familien vom Gutshof auf den Weg gen Westen. Ihr Vater war im Volkssturm, ihre Mutter führte den Treck an. Es war ein eisiger Januar mit Eis und Schnee und klirrender Kälte von Minus 25 Grad.

Bei Schnee und eisiger Kälte zog der Flüchtlings-Treck im Februar 1945 weiter nach Westen.

Bei Schnee und eisiger Kälte zog der Flüchtlings-Treck im Februar 1945 weiter nach Westen. Foto: Brentzel

Die Fahrt war mühsam, Hauptstraßen waren vom deutschen Militär gesperrt. Die Familie war mehrere Wochen unterwegs, übernachtete in den Wagen oder auf Gütern. Schließlich kamen sie bei Bekannten in Neustrelitz in Mecklenburg unter. „Wir hissten die weiße Flagge und versteckten uns im Keller.“ Dennoch fielen die Russen ein, plünderten Haus und Hof und vergewaltigten die Frauen. „Ich hatte noch Jahre später von den grausamen Szenen, die ich als Kind erlebte, schlimme Albträume“, erzählt Erika Dammann.

Ihr weiterer Feind neben der Angst vor den Russen war der permanente Hunger. „Wir hatten nichts zu essen, stundenlang mussten wir für ein Brot anstehen“, erinnert sie sich. Die damalige Not hat sie geprägt: Lebensmittel dürfen bis heute nicht achtlos weggeworfen und Teller müssen leer gegessen werden, erinnern sich auch ihre drei Söhne an die eigene Kindheit.

Als der Krieg im Mai 1945 zu Ende war, zog die Familie weiter in einen östlichen Vorort von Berlin, wo der Vater als Verwalter Arbeit fand. Nach mehreren Schulwechseln kamen Erika und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Rotraut auf Wunsch des Vaters auf ein Gymnasium in West-Berlin. Doch 1948 sperrten sowjetische Truppen alle Zufahrtswege nach West-Berlin.

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„Die Bevölkerung sollte ausgehungert werden“, erzählt sie. Die damals 15-Jährige wohnte mit ihrer Schwester in einem möblierten Zimmer. Wieder waren die Lebensmittel knapp und die beiden Mädchen auf sich allein gestellt. Denn die Eltern ließen sie zurück, wollten sie nicht aus der Schule nehmen, und flohen mit dem Sohn aus der damaligen DDR nach Westdeutschland.

Erst Schottland - dann Studium zur Diplom-Landwirtin

Nach dem Abitur wollte Erika 1955 ins Ausland. Über ihren Onkel, der seit seiner Kriegsgefangenschaft in Schottland lebte, kam sie zu einem schottischen Milchviehbetrieb. „Ich wollte etwas mit Landwirtschaft machen“, erklärt Erika Dammann. Sie studierte in Göttingen und ging als Diplom-Landwirtin erst nach Oldenburg, dann zum Geflügelhof Pomplun in Beckdorf. Im Buxtehuder Reitstall am Klöterbusch lernte die leidenschaftliche Reiterin ihren späteren Ehemann kennen, der Turnier-Reiter war und in Apensen einen Hof hatte.

Beim Melken in Schottland: „I put on the machine on Valpariso" schrieb die spätere Diplom-Landwirtin unter das Foto.

Beim Melken in Schottland: „I put on the machine on Valpariso" schrieb die spätere Diplom-Landwirtin unter das Foto. Foto: Dammann

Viele Jahre leitete Erika Damman den Milchviehbetrieb in der Nindorfer Straße. „Unser Vater war mehr der Arbeiter“, sagen ihre Söhne, die in Apensen wohnen. Der Älteste übernahm den Hof. Mehrfach hat sich Erika Dammann in Polen auf die Spuren der Vergangenheit begeben und schickte vor der Wende Pakete in ihr Heimatdorf. Der Gutshof in Amalienruh ist mittlerweile völlig verfallen. „Meine Heimat ist heute Apensen“, sagt sie.

Erika Dammann zeigt ein Erinnerungsfoto vom Melken in Schottland.

Erika Dammann zeigt ein Erinnerungsfoto vom Melken in Schottland. Foto: Laudien

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