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Nachkriegszeit

T1950 im Stader Nachbarkreis: Polizei beklagt rücksichtslose Radler und sieben tote Kinder

Von 1949 bis 1954 werden in den Hummelwerke in Sittensen Sitta-Motorroller gefertigt. Die Polizei steht zunächst vor der Frage, wie diese Gefährte verkehrsrechtlich zu beurteilen sind. Foto: Handwerkermuseum Sittensen

Von 1949 bis 1954 werden in den Hummelwerke in Sittensen Sitta-Motorroller gefertigt. Die Polizei steht zunächst vor der Frage, wie diese Gefährte verkehrsrechtlich zu beurteilen sind. Foto: Handwerkermuseum Sittensen Foto: Handwerkermuseum Sittensen

Wer umzieht, dem fallen beim Packen meist vergessene Schätze in die Hände. So auch den Zevener Polizisten, die die Station an der Lindenstraße zum Jahreswechsel verließen. Der Schatz: Eine Akte aus den Jahren 1945 bis 1952.

Von Thorsten Kratzmann Sonntag, 07.04.2024, 11:00 Uhr

Zeven. Offenbar unter dem Eindruck des in Teilen der Bevölkerung mehr als ausgelassen gefeierten Jahreswechsels widmet sich Oberrat Hagemeyer in seinem am 23. Januar 1950 verfassten Chef-Befehl der Verkehrssicherheit im Bezirk. Mit Verweis auf einen Erlass von Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm mahnt er an, gegen das Fahren unter Alkoholeinwirkung vorzugehen.

Hagemeyer hebt indes hervor, dass sich ein Fahrzeugführer nur dann strafbar macht, „wenn er unter erheblicher Wirkung geistiger Getränke am Verkehr teilnimmt“. Was unter „erheblich“ zu verstehen ist, das stellt er in das Ermessen der Polizisten.

Die grünen Uniformen sollten die Polizisten mit Beginn des Jahres 1950 nicht mehr im Tagesdienst tragen. Um die blaue Dienstkleidung zu schonen, war Grün noch während der Nachtschicht erlaubt.

Die grünen Uniformen sollten die Polizisten mit Beginn des Jahres 1950 nicht mehr im Tagesdienst tragen. Um die blaue Dienstkleidung zu schonen, war Grün noch während der Nachtschicht erlaubt. Foto: Franz_Peter_Tschauner

Ausführlich widmet sich der Oberrat der Rechte und Pflichten von Fußgängern und Radfahrern. „Zuschriften aus dem Publikum“, lässt er seine Kollegen wissen, veranlassen ihn, die Rechtslage darzulegen. Demnach „müssen Fußgänger Gehwege benutzen“. Als Gehweg gilt auch das Bankett. Wo auch immer sie sich fortbewegen, Fußgänger sind zu Rücksichtnahme „auf den Fahrverkehr“ verpflichtet.

Radfahrer haben Radwege zu benutzen. Wo es daran fehlt, nutzen Radler den äußersten Fahrbahnrand. Außerhalb geschlossener Ortschaften teilen sich Radler und Fußgänger das Bankett. „Dass eine gegenseitige Rücksichtnahme zwischen Fußgänger und Radfahrer in solchen Fällen obwalten muss, ist wohl eine Selbstverständlichkeit.“

Hausierer bieten Waren dunkler Herkunft feil

Doch die Realität ist offenbar eine andere: Hagemeyer stellt fest, dass der zunehmende Radverkehr und die Rücksichtslosigkeit vieler Radfahrer eine Rechtlosigkeit des Fußgängers haben entstehen lassen, der als „Freiwild“ betrachtet wird. „Ich erwarte, dass die Polizeibeamten hier bald Ordnung schaffen.“

Diese Erwartung bezieht sich gleichermaßen auf die Personenbeförderung per Omnibus. Seebohms Ministerkollege in der niedersächsischen Staatsregierung, Alfred Kubel, hatte Anfang Januar verfügt, dass „Omnibusse höchstens mit soviel Personen besetzt werden dürfen, als nach der Zahl der zugelassenen Sitz- und Stehplätze erlaubt ist“. Die Streifenpolizisten im Stader Bezirk sind angewiesen, die Einhaltung dieser Vorschrift zu kontrollieren.

Auch zur Überwachung des „Hausiererhandels“ sind die Beamten angehalten. Darauf dringt der Regierungspräsident im März 1950, denn der Einzelhandel in ländlichen Gegenden beklagt Umsatzrückgänge bei Kaffee, Tee, Kakao und Textilien um bis zu 70 Prozent. Als Verursacher sind „ambulante Händler“ ausgemacht, die Landgebiete mit voll beladenen Pkw bereisen und die Waren weit unter Einkaufspreisen des Handels verkaufen.

Oberrat Hagemeyer mutmaßt, dass es sich bei den Händlern um „Existenzen handelt, die weder über Hausierscheine noch über Wandergewerbescheine verfügen“. Die Waren seien zudem „etwas dunkler Herkunft“. Der Polizeichef fordert verstärkte Kontrollen.

Wie sind Motorroller verkehrsrechtlich zu beurteilen?

Derweil hat sich die Lebensmittelversorgung der Westdeutschen verbessert. Die letzten bestehenden Rationierungen laufen im April 1950 aus. Auch die Textilindustrie kommt in Schwung. Offenbar hat mit Frühlingsbeginn jeder Polizist im Bezirk eine blaue Uniform ausgehändigt bekommen.

Und so verfügt der Stader Oberrat, dass Beamte aller Dienstgrade fortan ausschließlich das blaue Tuch im Dienst tragen. Damit die neue Uniform möglichst lange hält, sei die alte grüne Uniform im Nachtdienst aufzutragen.

Ob nun blau oder grün gewandet, ein Vorbote des Wirtschaftswunders stellt die Polizisten vor eine Herausforderung. Im Straßenverkehr tauchen mehr und mehr nicht gekannte Gefährte auf - ein Fahrrad-Motorrad-Zwitter. Polizei-Chef Hagemeyer nimmt darauf Bezug in seinem Befehl Nr. 72 vom 24. April 1950.

Darin heißt es: „In letzter Zeit tauchen im Verkehr sogenannte Motorroller auf, wie sie seit einiger Zeit in Italien gebräuchlich sind. In Sittensen, Kreis Bremervörde, befasst sich eine Werkstatt mit der Herstellung ähnlicher Motorroller und bringt diese auch bereits in den Verkehr.“

Munitionsfunde und unsachgemäßes Hantieren mit Munition beschäftigt die Polizei während der Nachkriegsjahre. Noch 1950 kam es zu Unglücksfällen.

Munitionsfunde und unsachgemäßes Hantieren mit Munition beschäftigt die Polizei während der Nachkriegsjahre. Noch 1950 kam es zu Unglücksfällen. Foto: Claus_Felix

Hagemeyer spielt auf das erste deutsche Motorroller-Werk an. In den Hummelwerken in Sittensen waren 1949 die ersten Sitta-Mofas und -Roller zusammengeschraubt worden. Die motorisierten Zweiräder sind vergleichsweise günstig und verkaufen sich gut. Doch wie ist eine Sitta verkehrsrechtlich zu beurteilen? Handelt es sich um ein motorisiertes Fahrrad oder um ein schwach motorisiertes Motorrad? Diese Fragen bedurften Antworten.

Der Stader Polizei-Chef reicht sie an den Regierungspräsidenten weiter und bittet um Klärung.

Präsident Friedrich Knost tut es Hagemeyer gleich. Der kommissarische Amtsinhaber wendet sich an Verkehrsminister Kubel in Hannover. Der verweist auf eine in Kürze zu erwartende Richtlinie aus dem Hause des von Bundesverkehrsminister Seebohm. Solange die nicht vorliegt, gilt: Sitta-Roller sind „wie Kraftfahrzeuge im Sinne des Kraftfahrzeug-Gesetzes nach den Vorschriften der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung zu behandeln“.

Aus dem Lager Seedorf via Genua in den Sudan

Im Mai 1950 rückt das „Ausländerlager Seedorf“ wiederum in den Fokus. In der unter UN-Verwaltung stehenden ehemalige Marine-Kaserne waren Displaced-Persons - Esten, Letten, Litauer, Jugoslawen, Polen - untergebracht. Bis März 1949 hatte England sie unter dem Slogan „Westward home“ auf der Insel willkommen geheißen.

Nachdem die britische Regierung unter Clement Attlee die Zuwanderung gestoppt hatte, sprangen Neuseeland, Australien und der Sudan ein. In regelmäßigen Abständen verließen Kontingente das Lager Seedorf, um via Genua oder Neapel auszuwandern. Bevor das Lager im Juli 1950 unter deutsche Verwaltung gestellt wird, gelingt der Polizei ein Fahndungserfolg.

Ende Mai fasst Oberrat Hagemeyer den Fall schriftlich zusammen und macht ihn in Polizeikreisen bekannt. Demnach gelingt es dem Bremervörder Kriminalpolizei-Wachtmeister Schmied mit Unterstützung von Kollegen der Polizeistation Selsingen, den aus der Untersuchungshaft in Braunschweig entflohenen Polen Jaroslaw Dumanski in Seedorf festzunehmen.

Der 26-Jährige war eines Mordes, dreier Raubüberfälle und 30 schwerer Diebstähle überführt. Die Festnahme des Gesuchten sei dank intensiver Ermittlungstätigkeit und profunder Kenntnis der Verhältnisse in dem mit 3000 Ausländern belegten Lager gelungen. Dafür gebühre Schmied Anerkennung, schreibt der Polizei-Chef.

Mit Übergabe des Lagers an deutsche Stellen am 1. Juli richtet die Polizei dort eine Wache ein. Sie ist der Polizeistation Zeven zugeordnet und telefonisch unter der Nummer 478 zu erreichen.

Schrotthändler entlohnen Munitionssammler

Zeitgleich mit der Freigabe des Besitzes und Gebrauchs von Luftgewehren für Deutsche ereignet sich in Visselhövede ein tragisches Unglück, verursacht von einem Blindgänger. Beim Hantieren mit einer Werfer-Granate kommen im Juni sieben Kinder ums Leben.

Eine Mitarbeiterin des Seedorfer UNRRA-Teams. Die UN übergab das Lager am 1. Juli 1950 in deutsche Verantwortung. Foto: Museum Kloster Zeven

Eine Mitarbeiterin des Seedorfer UNRRA-Teams. Die UN übergab das Lager am 1. Juli 1950 in deutsche Verantwortung. Foto: Museum Kloster Zeven Foto: Museum Kloster Zeven

Die Kinder waren, wie es auch 1950 noch vielfach geschieht, auf der Suche nach Metall durch Feld und Flur gestreift. „Der allgemeine Mangel an Schrott und das Bestreben der Kinder, sich einen Verdienst zu verschaffen, führt immer wieder dazu, dass im Gelände aufgefundene oder bisher unbeachtet gebliebene Munition gesammelt und zu den Produktenhändlern getragen werden“, heißt es in der Schilderung Hagemeyers.

Binnen vier Jahren waren im Stader Bezirk 29 Personen beim Hantieren mit Munition getötet und 35 schwer verletzt worden. Unter dem Eindruck des jüngsten Unglücks weist der Oberrat die Polizisten nochmals an, Schrotthändler auf- und die Feldmark abzusuchen.

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