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Geschichte

TAbschied vom Vater im brennenden Danzig: Eine Stader Zeitzeugin berichtet

Abschied von Dänemark 1949: Ursula Kreutzmann steht vorne links, ihr Vater hinter ihr. Die Schlagzeile im Aftonbladet: „Wir kommen wieder, wenn der König es gestattet, sagten die Deutschen“.

Abschied von Dänemark 1949: Ursula Kreutzmann steht vorne links, ihr Vater hinter ihr. Die Schlagzeile im Aftonbladet: „Wir kommen wieder, wenn der König es gestattet, sagten die Deutschen“. Foto: Stadtarchiv Stade

Im März 1945 flieht die siebenjährige Ursula Kreutzmann mit ihrer Mutter aus Danzig. Der Vater bleibt zurück. Suchdienste prägten ihr Leben in den folgenden Jahren - in Dänemark und Stade. Das ist die Geschichte dazu.

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Von Anping Richter
Sonntag, 16.11.2025, 05:50 Uhr

Stade. Am frühen Morgen des 30. März 1945 schreibt ein kleines Mädchen in großer Kinderschrift „Herzliche Grüße“ auf ein Stück Papier. Es ist für ihren Vater bestimmt. Er ist beim Volkssturm. Die siebenjährige Ursula weiß nicht, ob und wann sie ihn wiedersehen wird. „Behüt‘ Dich Gott“, hat ihre Mutter für ihren Mann auf den Zettel geschrieben. Sie klebt ihn an die Wand des Gebäudes, das er als letzten Aufenthaltsort der beiden kannte.

Millionen Menschen suchen Angehörige

80 Jahre später erinnert sich Ursula Piepenburg, geborene Kreutzmann, immer noch gut an diesen Tag. Um 8 Uhr eilen sie und ihre Mutter Edeltraut in Begleitung deutscher Soldaten in Richtung Hafen, um über die Ostsee in das noch immer von Deutschland besetzte Dänemark zu fliehen. Danzig brennt. Noch am gleichen Tag wird die Rote Armee die Stadt einnehmen.

Die 88-jährige Zeitzeugin Ursula Piepenburg.

Die 88-jährige Zeitzeugin Ursula Piepenburg. Foto: Richter

Familie Kreutzmann ist eine von Millionen in Europa, die der Krieg auseinanderreißt. „Fast jeder suchte bei Kriegsende nach Angehörigen oder wurde gesucht“, schreibt Stades Stadtarchivarin Dr. Christina Deggim in ihrem soeben erschienenen Buch „Die Flüchtlingssuchkartei Stade/Elbe“. Bevor sie nach Stade verlegt wurde, hatte diese ihren Sitz in Dänemark und hieß „Flygningeadministrationens Kartotek Kopenhagen“. Für Familie Kreutzmann sollte sie eine wichtige Rolle spielen, wie Ursula Piepenburg, geborene Kreutzmann, als Zeitzeugin bei der Buchvorstellung berichtete.

Als ungeliebte Flüchtlinge in Dänemark

Als Deutschland am 5. Mai 1945 in Dänemark kapituliert, sind Ursula und Edeltraut Kreutzmann zwei von Hunderttausenden deutschen Flüchtlingen im Land. Nach fünf Jahren deutscher Besatzung wollten die Dänen sie alle so schnell wie möglich loswerden. Doch für die Versorgung und Rückführung sind die alliierten Siegermächte verantwortlich. Die Überführung ist angesichts der chaotischen Zustände und der schlechten Versorgungslage in Deutschland sehr schwierig, weshalb die Briten das für ihre Besatzungszone zunächst ablehnen.

Ursula und ihre Mutter ziehen von Unterkunft zu Unterkunft. „In Kopenhagen haben wir in einer Autohalle auf Strohsäcken geschlafen. Einmal, in Helsingør, kamen wir in ein Hotel und bekamen sogar Butter und Milch“, erinnert sie sich. Wo ihr Vater war und ob er überhaupt noch lebte, wussten sie lange nicht.

Monatelange Ungewissheit bei Familie Kreutzmann

Tatsächlich ist es auch ihrem Vater Axel Kreutzmann gelungen, nach Dänemark zu fliehen. Er ist als Kriegsgefangener in Lyngby bei Kopenhagen interniert. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK), zu dessen Aufgaben die Klärung der Schicksale von Vermissten schon lange zählt, stellt er eine Suchanfrage.

„Ab Mai 1945 begann die Registrierung aller Flüchtlinge und Displaced Persons in Dänemark“, berichtet Stadtarchivarin Deggim. Axel Kreutzmann erfährt im Juni 1945, dass seine Frau in Dänemark ist. Er schreibt sofort - „mit riesiger Freude“ und gleichzeitig in großer Sorge: Der Suchdienst hat ihm nämlich nicht mitgeteilt, ob Tochter Ursel wohlauf und bei ihr ist. Es dauert Tage, bis die erlösende Antwort kommt. Ein Antrag, die beiden zu ihm ins Lager zu verlegen, bringt die Familie wieder zusammen.

Das DRK in Dänemark gerät in Verdacht, Nazi-Propaganda zu betreiben und Kriegsverbrecher zu verstecken. Der Suchdienst des DRK wird offiziell aufgelöst, arbeitet eine Zeit lang aber noch als „Büro für deutsche Flüchtlinge“ weiter. Inzwischen sind etwa 300.000 deutsche Flüchtlinge und 200.000 bis 300.000 Displaced Persons in Dänemark. In vielen Lagern bilden sich kleine Suchdienste.

Die dänische Regierung baut ein zentrales Flüchtlingsregister auf, die „Flygtningeadministrationens Kartotek“. 1946 wird der Journalist und Widerstandskämpfer Ralph Holm zum Leiter der Kartei. Axel Kreutzmann meldet sich freiwillig, um dort zu arbeiten - und wird gerne genommen, weil er nicht nur Dänisch, sondern auch andere Sprachen kann. Die Mitarbeiter bekommen kein Entgelt, aber bessere Kleidung und Lebensmittel und sind von der gewöhnlichen Lagerarbeit freigestellt.

Diesen Zettel klebte Ursula Piepenburgs Mutter als Botschaft an eine Wand des Gebäudes in Danzig, in dem sie und ihr Mann sich das letzte Mal gesehen hatten.

Diesen Zettel klebte Ursula Piepenburgs Mutter als Botschaft an eine Wand des Gebäudes in Danzig, in dem sie und ihr Mann sich das letzte Mal gesehen hatten. Foto: Richter

Bis Ende 1948 wird die Kartotek Schicksale aufklären, quälende Ungewissheit beseitigen, Familien zusammenführen und insgesamt mehr als 300.000 positive Suchresultate aufweisen. 1948 will die dänische Regierung diesen Suchdienst nicht weiterführen, denn die meisten Deutschen haben Dänemark verlassen. Doch mehrere motivierte Mitarbeiter der Kartotek, zu denen Axel Kreutzmann gehört, bleiben.

Diese Karteikarte verzeichnet die Suchanfrage von Ursula Kreutzmanns Vater Axel nach seiner Familie beim DRK-Suchdienst.

Diese Karteikarte verzeichnet die Suchanfrage von Ursula Kreutzmanns Vater Axel nach seiner Familie beim DRK-Suchdienst. Foto: Familie Kreutzmann

Erst als sich eine Möglichkeit findet, ihre Arbeit im norddeutschen Stade fortzusetzen, verlassen sie im Februar 1949 Dänemark - als letzte deutsche Flüchtlinge. Die Zeitung „Aftonbladet“ zitiert sie: „Wir kommen wieder, wenn der König es gestattet.“ Aus der Kartotek wird die „Flüchtlingssuchkartei Stade/Elbe“ - und aus Ursula Kreutzmann nach fast vier Jahren in Dänemark eine Staderin.

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