TAustausch mit „normaler“ Welt: Warum diese Psychiatrie die Türen öffnet

Victor Müller ist einer der 83 Bewohner im Haus Christa. Er gibt gern Tipps und Borschtsch gehört zu seinen Lieblingsgerichten. Foto: Krabbenhöft
Das Leben in einer Psychiatrie findet hinter verschlossenen Türen statt? Nicht so im Haus Christa. Die 83 Bewohner haben die Freiheit, ein und aus zugehen. Ein Besuch.
Stollhamm. Das Haus Christa liegt an der Landstraße kurz vor Stollhamm (Landkreis Wesermarsch). Es hat sogar eine eigene Bushaltestelle. Manchmal verirren sich Urlauber hierher, die in ihr Navi lediglich „Hauptstraße“ als Adresse eingegeben haben und das Backsteingebäude mit viel Grün für ihre Ferienpension ein paar Häuser weiter halten. An der Eingangstür grüßt ein Zettel: „Liebe Besucher, kommen Sie herein und schauen Sie sich um.“ Die Tür ist offen.
Bewohner können frei ein und aus gehen
Was für die Besucher gilt, gilt auch für die 83 Bewohner des Hauses. Jeder kann frei ein und aus gehen. Im Flur lehnt eine Strohpuppe dekorativ an einem Kürbis. Links und rechts führen lange Gänge zu Zimmern und Gemeinschaftsräumen. Der Eindruck einer Pension ist gar nicht weit hergeholt.
Eine Frau läuft vorbei. An ihrem Blazer blitzt eine kleine, grüne Schleife. Die Anstecknadel ist das Symbol für Toleranz gegenüber psychischen Erkrankungen. Christine Rüdebusch, die Leiterin der Einrichtung, ist auf ihrem Weg in die Bastelwerkstatt. Sie will sich ein Bild davon machen, wie weit die Vorbereitungen für das Herbstfest des Hauses gediehen sind.
Ein Armband dient als Stimmungsbarometer
Zehn Hausbewohner sitzen an einem Tisch und bekleben Lampions mit bunten Papierschnipseln. Jedes Stück wird mit Leim bepinselt. Hinter einem leicht geöffneten Vorhang steht ein Schlagzeug. Am Nachmittag soll hier die Bandprobe der „The Christas“ stattfinden. Mitarbeiter und Bewohner treten gemeinsam auf.
Marlies bastelt nicht, sie strickt lautlos an einer Mütze. Ihre Geschichte war voller Gewalt. Irgendwann wurde es zu viel. Sie musste raus aus ihrer Wohnung. Seit einem halben Jahr ist sie Teil der Wiedereingliederungsgruppe. Dort werden Menschen, deren Alltag aus den Fugen geraten ist, mit viel Geduld wieder aufgebaut. Die Zeit dient als Sprungbrett, um irgendwann dem eigenen Leben wieder Struktur geben zu können.
An Marlies‘ linkem Handgelenk leuchtet gelb ein Armband aus Holzperlen. Es ist ihr Stimmungsbarometer. In Ampelfarben zeigt es an, wie es in ihr aussieht. Trägt sie Rot, soll man sie nicht ansprechen.
Nicht alle sind von der Unterkunft begeistert
Ein Bewohner wendet sich an Christine Rüdebusch: „Ich wollte mich noch mal bedanken, dass ich hier sein darf. Das ist ein ganz tolles Haus“, sagt er. Enno lebt seit seinem 15. Lebensjahr mit schweren Depressionen. 18 Jahre arbeitete er in der Behindertenwerkstatt in Atens.
Früher hat er noch selbst für sich gekocht. Jetzt stehen ihm täglich drei Gerichte zur Wahl. Im Erdgeschoss befindet sich der Speisesaal. Den Bewohnern der Pflegeabteilung wird ihr Mittagessen per Buffetwagen gebracht.
Präventionsmaßnahmen
Psychiater: Zwangseinweisungen sollten öfter genutzt werden
Aber nicht alle sind so begeistert von ihrer Unterkunft wie Enno. Mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze und Sonnenbrille sitzt ein Mann schweigend in der Runde. Er ist für 14 Tage zum Probewohnen hier.
In der Bastelgruppe entwickelt sich ein Gespräch um das Thema Streit. „Es muss auch mal krachen“, sagt jemand. Eine andere, sie könne nicht schlafen, wenn ein Konflikt nicht geklärt sei. Der Neue verlässt den Raum, eine rauchen.
Physiotherapeut kommt zweimal pro Woche
Jeden Montag und Mittwoch kommt der Physiotherapeut Michael Köster, um mit seinen Klienten ihr Gefühl für Gleichgewicht und Stabilität zu stärken. Aufgrund ihrer jeweiligen Erkrankung müssen einige von ihnen Medikamente nehmen. Deren Nebenwirkungen beeinflussen sie körperlich - manche werden müde, andere wackelig auf den Beinen.
Martin berichtet von einem Summen im Ohr, „wie wenn man einen Computer runterschaltet“. Die Tabletten halten seinen Kopf zusammen. Elisabeth (ihr Name wurde auf Wunsch geändert) ist aufgeregt. Auch sie möchte etwas loswerden. Beim Sprechen verschluckt sie einzelne Silben, die Worte kommen stoßweise.
Weil sie Martin mehrmals unterbricht, greift der Therapeut ein: „Moment, lass ihn bitte ausreden“, sagt er. Doch lange hält sie es nicht aus. Beim Einkaufen im Supermarkt habe sie eine Cola kaufen wollen und Hilfe benötigt. Man habe sie ignoriert und stattdessen über sie gesprochen. Das tat weh.
Väterliche Freundschaft und andere Bindungen
Ernie weiß genau, wie sie sich fühlt. Auch dass sie, als eine der jüngsten Bewohnerinnen des Heims, sich manchmal an einen anderen Ort wünscht. „Das Thema haben wir jeden Tag“, sagt er. Den älteren Herrn verbindet eine väterliche Freundschaft mit Elisabeth. „Sie ist meine Nummer 1. Ich mag sie so, wie sie ist“, betont er. Und Michael Köster fasst das Gesagte zusammen: „Bindungen und gegenseitige Unterstützung sind im Alltag notwendig.“ Die anderen nicken.
Ernie hatte damals eine Psychose. Noch immer schläft er schlecht, oft hat er Schmerzen. Wenn Ernie kein Auge zukriegt, drückt er in seinem Zimmer einen Knopf und die Nachtwache schaut bei ihm vorbei. Kein Bewohner wird im Haus Christa jemals sediert.
Es gibt Einzel- und Doppelzimmer sowie 5er-WGs mit einer Klingel am Eingang zum Trakt. Die Zimmertüren sind von außen nicht abgeschlossen, können aber von innen verriegelt werden. Eine Regel für Besucher lautet, dass sie anklopfen müssen, bevor sie private Räume betreten. In der Einrichtung gibt es derzeit zwei Liebespaare - eine On-off-Beziehung und eine feste. Wollen die Paare ungestört sein, sorgen die Mitarbeiter für die entsprechenden Voraussetzungen.
Christine Rüdebusch ist zurück in ihrem Büro. Es ist Zeit für das tägliche Meeting. Die Mitarbeiter aus Pflege, Küche und Verwaltung versammeln sich. In einer der Duschen riecht es unangenehm. Da muss ein Handwerker Abhilfe schaffen. Ein Bewohner ruft im Stundentakt seine Verwandten an. Es muss geklärt werden, wie er dazu gebracht werden kann, sein Verhalten zu unterlassen.
Tür steht für Kontakte zur Außenwelt offen
Ein anderer räumt regelmäßig den Kühlschrank in der für alle offenen Küche leer. Dabei macht er auch nicht vor den laktosefreien Lebensmitteln Halt, die eigentlich für andere Bewohner bestimmt sind. „Wir müssen täglich mit 83 Spezialisten umgehen. Jeder hat so seine Eigenheiten. Das geht nur mit Humor“, sagt Christine Rüdebusch.
Haus Christa und seine Bewohner wollen nicht als Paralleluniversum wahrgenommen werden. Die gesamte Belegschaft bemüht sich, einen regen Austausch mit der „normalen“ Welt herzustellen. Mit Leader-Wesermarsch Fördermitteln wurden Sportgeräte für den Garten bewilligt.
Bewohner können sich Ausflugsziele wünschen
Bald sollen sie angeschafft und öffentlich zugänglich sein. Sportler, die auf dem Bahndamm nahe der Einrichtung unterwegs sind, können dort eine zusätzliche Fitness-Station einlegen.
Umgekehrt steht für die Heimbewohner im Haus eine Box bereit, in die sie Zettel mit ihren Ausflugswünschen werfen können. Organisieren müssen sie diese Aktionen, so weit es geht, selbst. Wo es hakt, werden sie vom Team unterstützt. Marlies möchte nach Dangast, „einmal wieder barfuß am Strand laufen“.