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Abschussdebatte

TDer Hotelier, der zum Wolfsversteher wurde

Bei seinen Führungen auf den Spuren der Wildtiere erklärt Kenny Kenner auch, warum Wölfe heulen, und wie man sich verhält, wenn man einem begegnet.

Bei seinen Führungen auf den Spuren der Wildtiere erklärt Kenny Kenner auch, warum Wölfe heulen, und wie man sich verhält, wenn man einem begegnet. Foto: Philipp Schulze/dpa

Über den Umgang mit Wölfen wird intensiv gestritten, auch im Kreis Stade. Kenny Kenner setzt sich für Entspannung und ein Zusammenleben ein - und erklärt, warum.

Von Reimar Paul Sonntag, 03.11.2024, 05:50 Uhr

Lüchow. In der Nacht hat es geregnet. „Heute finden wir vielleicht keine Wolfsspuren“, sagt Kenny Kenner, „die könnten weggewaschen sein“. Kenner ist ehrenamtlicher Wolfsberater im Kreis Lüchow-Dannenberg, hauptberuflich betreibt er ein Bio-Hotel. Alle zwei Wochen führt er Herbergsgäste und andere Interessierte auf mehrstündigen Wolfswanderungen durch die Göhrde, das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet Norddeutschlands mit alten Bäumen, Naturdenkmälern und seltenen Tierarten.

Seit zehn Jahren leben in der Göhrde Wölfe in freier Wildbahn. „Das Göhrde-Rudel ist ein besonderes Rudel“, sagt Kenner. „Und es ist besonders gut dokumentiert.“ Er selbst hat viel dazu beigetragen: An gut 40 Stellen hängen seine Wildtierkameras, etliche Nächte hat er sich auf Hochsitzen um die Ohren geschlagen, um in der Morgendämmerung einen Wolf zu fotografieren.

Das Göhrde-Rudel umfasst vier Generationen, eine absolute Seltenheit: Das Elternpaar, ein jüngeres Paar, zwei Jährlinge sowie eine nicht genau bekannte Zahl von Welpen. „Hier hat die alte Wölfin erlaubt, dass eine Tochter bleibt und selber Kinder bekommt“, erklärt Kenner. Die meisten Wölfe würden mit einem oder anderthalb Jahren von den Eltern verstoßen, sie gingen auf Wanderschaft und versuchten, eigene Rudel zu gründen. Dabei legen sie oft gewaltige Strecken zurück: Anfang dieses Jahres wurde ein in Niedersachsen geborener Wolf in den spanischen Pyrenäen nachgewiesen.

4000 Wölfe können in Deutschland maximal in freier Wildbahn leben. Für mehr gebe es keinen Platz und keine Nahrung.

4000 Wölfe können in Deutschland maximal in freier Wildbahn leben. Für mehr gebe es keinen Platz und keine Nahrung. Foto: Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dpa

„Warum darf man Wölfe nicht einfach abschießen?“

„Warum darf man Wölfe nicht einfach abschießen wie anderes Wild auch?“, will eine Frau wissen. „Muss es da nicht wenigstens eine Obergrenze geben?“ „Das regelt sich von ganz alleine“, hält Kenner dagegen. In Deutschland werde sich die Zahl bei maximal 3.000 bis 4.000 Tieren einpendeln, schätzt er. „Für mehr gibt es keinen Platz und keine Nahrung.“

Weidetierhalter haben in der Vergangenheit immer wieder Wolfsrisse beklagt, das hat auch zu politischen Debatten geführt. Ende September haben sich Vertreter der EU-Länder darauf verständigt, den Schutzstatus für Wölfe von „streng geschützt“ auf „geschützt“ herabzustufen. Das soll mittelfristig Abschüsse erleichtern. Noch aber sind keine neuen Bestimmungen in Kraft.

„Was ist mit den Wölfen, die Schafe reißen?“, fragt ein Teilnehmer auf der Wolfsführung. Wenn es mehrere Übergriffe gibt, die einem bestimmten Wolf zugeschrieben werden können, und kein anderes Mittel hilft, dann müsse man sie schon abschießen, so Kenner. Viel wirksamer sei aber „ein Herdenschutz, der diesen Namen auch verdient“. Die allermeisten von Wölfen gerissenen Weidetiere seien nicht oder nicht ausreichend geschützt gewesen. Wenn alle Halter zumindest den Grundschutz - einen 90 Zentimeter hoher Elektrozaun mit 4.000 Volt Spannung - installierten, „hätten wir nur 20 bis 30 Prozent der Risse“.

In anderen Ländern sind Menschen an Wölfe gewöhnt

Der Wolfsberater weiß, dass die Auseinandersetzungen um den Wolf zu einem „Kulturkampf“ geworden ist: „Der Wolf steht so im Mittelpunkt, weil er die Menschen bewegt.“ Schon in Märchen und Mythen seien Wölfe verteufelt und später ausgerottet worden. In anderen Ländern, Kenner nennt Italien und Spanien, seien die Menschen seit jeher an Wölfe gewöhnt, das Zusammenleben sei dort entspannter: „Mein Interesse ist, dass das Zusammenleben auch hier klappt.“

Plötzlich stoppt Kenner. Er hebt die Hand, beugt sich zum Boden. „Hier haben wir doch eine Wolfsspur“, sagt er. Der Abdruck im feuchten Sand sieht aus wie der eines größeren Hundes, doch Kenner ist sich sicher. Das Trittsiegel eines Wolfes ist länglich-oval, länger als breit, die kräftigen Krallenabdrücke sind gerade ausgerichtet. Im Vergleich dazu ist der Abdruck eines Hundes rundlich und die Krallen weisen in verschiedene Richtungen.

Junge Wölfe seien scheu, aber auch neugierig

Leibhaftige Wölfe bekommen Kenners Wandergruppen kaum einmal zu Gesicht. Wohl aber „Rendezvous-Plätze“. Knapp zehn Wochen nach der Geburt ziehen die Welpen aus der Wurfhöhle auf solche Plätze um - kleine, von Buschwerk umgebene Lichtungen, abseits der Pfade und Wege. Hier bringen die Eltern den Jungen das Jagen bei. Und das Heulen. Jede Wolfsfamilie, weiß Kenner, hat ihren eigenen „Heuldialekt“. Wölfe heulen, um ihr Revier zu markieren. Oder aus Trauer, wenn der Partner stirbt. Der Mythos, dass Wölfe den Mond anheulten, stimme nicht.

Wie verhält man sich, sollte man doch einmal einem Wolf begegnen? „Ruhig bleiben und Abstand halten, aber nicht weg- oder dem Wolf entgegenlaufen und ihn keinesfalls bewerfen“, sagt Kenner. Junge Wölfe seien scheu, aber auch neugierig: Das Werfen mit Gegenständen könne von ihnen als Aufforderung zum Spielen verstanden werden.

„Und vor allem: Niemals Wölfe füttern!“ Kenner erinnert an den als „Kurti“ bekannt gewordenen Wolf aus der Lüneburger Heide. Er hatte sich ab 2015 mehrmals Menschen bis auf wenige Meter genähert und soll sogar einer Spaziergängerin mit Kinderwagen und Hund hinterhergelaufen sein. Als erster Wolf seit der Wiedereinwanderung der Tiere nach Deutschland um die Jahrtausendwende wurde „Kurti“ amtlicherseits zum Abschuss freigegeben und 2016 getötet. Spätere Untersuchungen erhärteten den Verdacht, dass er wohl angefüttert worden war und deshalb seine Scheu verloren hatte. (epd/oer)

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