TEx-Partnerin hatte den Scheeßeler Todesschützen bereits angezeigt
Vor dem Haus der Ermordeten in Brockel liegen Blumen, Kerzen und Stofftiere. Hier ist eine Mutter und ihr dreijähriges Kind erschossen worden. Foto: Harder-von Fintel
Auch wenige Tage nach dem brutalen Tod von vier Menschen nahe Scheeßel steht die Region unter Schock. Es ist unvorstellbar für alle, dass Soldat G. (32) hier ein Blutbad angerichtet haben soll. Seine Noch-Ehefrau hatte zuvor Hilfe gesucht.
Scheeßel. In Westervesede soll der Soldat der Fallschirmjäger-Kaserne Seedorf in der Nacht zu Freitag zunächst den neuen Freund (30) seiner Ex-Partnerin und dessen Mutter (55) erschossen haben. Dann fuhr er wohl direkt nach Brockel und tötete dort die beste Freundin (33) seiner Ex und deren Tochter (3). Nur wenige Stunden später ließ er sich vor der Von-Düring-Kaserne in Rotenburg festnehmen. Von einer „Beziehungstat“ ist die Rede.
Nach Informationen der „Rotenburger Kreiszeitung“ soll der Tatverdächtige mehrfach im Auslandseinsatz gewesen sein, unter anderem in Afghanistan. In der Tat-Nacht soll er ein Bundeswehr-Sturmgewehr „G36“ benutzt haben. Die Polizei spricht von „schrecklichen Bildern“ an den Tatorten, die sich den ersten Einsatzkräften geboten hätten. Ihnen sei psychologische Hilfe angeboten worden, heißt es weiter.
Neunjährige überlebt in Brockel
Im Haus in Brockel soll sich in der Nacht ein weiteres Kind der getöteten 33-Jährigen aufgehalten haben. Die Neunjährige überlebte das Blutbad, ebenso wie weitere Familienangehörige in Westervesede. Die schwangere Ex-Partnerin des Soldaten lebt ebenfalls in Brockel, angeblich wollte G. deren Leben auf diese brutale Weise zerstören. Sie und ihr neuer Freund aus Westervesede hatten sich zuvor offenbar bereits bedroht gefühlt und den Tatverdächtigen angezeigt.
Die Strafanzeige sei vor kurzem wegen einer möglichen Bedrohung erfolgt, bestätigt Polizeisprecher Heiner van der Werp am Sonntag. Danach habe es eine sogenannte Gefährderansprache gegeben, dem 32 Jahre alten Bundeswehrsoldaten hätten Polizisten die Situation erklärt und mögliche Konsequenzen geschildert. „Also eine deeskalierende Maßnahme“, erläutert er, kennt die genauen Inhalte des Gesprächs aber nicht. „Alles andere wird jetzt im Anschluss an die Taten natürlich überprüft“, so van der Werp.
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In den Dörfern Westervesede und Brockel sichern Beamte der Polizeiinspektion Rotenburg weiterhin die Grundstücke der Verbrechen, denn die Spurensicherung hat ihre Arbeit bisher nicht beendet. Die Leichen wurden aber mittlerweile abtransportiert. Das Medieninteresse war am Freitag und Sonnabend enorm im Landkreis Rotenburg.
Am Sonntag sind die Dorfbewohner dann wieder weitgehend unter sich. Die Tat kann immer noch niemand richtig in Worte fassen, Blumen, Kerzen und Stofftiere deuten auf die Trauer und einen letzten Gruß an die Toten hin. Alles ist ruhig in den kleinen Orten. „Als sei ein Schleier um Brockel herum“, erzählt eine junge Mutter. Und auch ein Nachbar findet am Sonntag kaum Worte für die schreckliche Tat im Haus nebenan. „Schlimmer geht es nicht“, sagt er uns im Gespräch.
Landrat spricht Einsatzkräften seinen Dank aus
Im Kernort Scheeßel ist es ebenfalls eher still, „jeder ist so in seinen Gedanken“, heißt es am Sonnabend im Supermarkt.
Ausgerechnet am Freitag standen die Feierlichkeiten zu 50 Jahren Einheitsgemeinde Scheeßel auf dem Programm, eine emotionale Herausforderung für die Gäste aus der Politik, zumal ein Ortsratsmitglied von Westervesede unter den Todesopfern ist.
Rotenburgs Landrat Marco Prietz (CDU) hat am frühen Freitagmorgen telefonisch von den schrecklichen Ereignissen erfahren. „Ich war und bin immer noch fassungslos und tief traurig. Als Vater ist es für mich besonders unerträglich, dass auch ein dreijähriges Kind getötet wurde“, erklärt er am Sonntag auf Nachfrage. Es sei insbesondere für Scheeßels Bürgermeisterin Ulrike Jungemann ganz sicher keine leichte Situation gewesen, dass abends die offizielle Veranstaltung zum 50-jährigen Bestehen der Gemeinde angestanden habe. „Sie hat aber zu Beginn des Termins die richtigen Worte gefunden und alle Anwesenden haben mit einer Schweigeminute der Opfer gedacht. Ich bin in Gedanken bei den Angehörigen und Hinterbliebenen“, so Prietz. Sein Dank gilt allen Polizei- und Rettungskräften, „die in dieser furchtbaren Einsatzlage so umsichtig gehandelt haben“.
Seelsorger der Kirche im Einsatz
Um die grausame Tat zu verarbeiten, steht die Kirche Angehörigen und Betroffenen mit Seelsorgern aus der Region zur Seite. Kommen die Betroffenen jemals wieder aus der Trauer und dem Schockzustand heraus? „Das ist sehr individuell“, weiß Pastor Hans Jürgen Bollmann, Beauftragter für Notfallseelsorge im Sprengel Stade. „Wie jemand letztlich auf eine schreckliche Gewalttat reagiert, können wir nie vorher wissen, noch vorhersagen. Uns ist wichtig, nicht wegzugehen und die Menschen nicht alleine zu lassen. Vielleicht ist der Satz ‚Ich bin jetzt für Sie da‘ zu banal und klingt so, als würden wir auf Abstand gehen. Letztlich geht es um unser Zutrauen, das Menschen, die so etwas erleben, am besten selbst herausfinden und sagen, was in diesem Augenblick nötig ist. Wir hören zu, begleiten und halten aus“, erklärt er am Sonntag unserer Redaktion.
Die Seelsorger seien keine voreiligen Helfer, sie orientieren sich an dem Bedarf des Gegenübers. „Indem wir sagen: Ich bin jetzt für Sie da und habe Zeit für Sie, versuchen wir Menschen, die etwas Fürchterliches erlebt haben, zu stabilisieren. Wir fragen: Wen möchten Sie jetzt bei sich haben, wen möchten Sie jetzt anrufen oder Ähnliches, um die Selbstwirksamkeit der Betroffenen zu stärken.“
Die Pastoren könnten nur für die Menschen da sein, die diese Begleitung wünschen: „Wir drängen uns nicht auf.“
Die Kirchengemeinde Brockel lädt dazu ein, in die Kirche zu kommen, die in diesen Tagen extra geöffnet wird. Wer möchte, kann sich zudem an Pastor Christian Wietfeld wenden. Ebenso bieten die drei Scheeßeler Pastoren den Kontakt an.
Am Mittwoch findet um 18 Uhr in der Friedhofskapelle Westervesede eine Gedenkandacht mit Pastorin Johanna Schröder statt. In Brockel wird laut Bollmann über etwas Vergleichbares nachgedacht. Es soll Zeit sein, um dem Unaussprechlichen Raum zu geben oder zu schweigen und eine Kerze anzuzünden.
Wie Seelsorger stark bleiben
Und wie gelingt es Seelsorgern und Einsatzkräften, den nötigen Abstand zur Tat zu wahren? „Wir achten so gut es geht auf unsere Psychohygiene und nutzen die Supervision. Wenn mir etwas zu viel wird, schalte ich den Fernseher aus. So ging mir das auch zu Beginn der Pandemie oder des Krieges. Es reicht mir, dann nur einmal am Tag die Nachrichten zu sehen. Unter anderem hilft mir die Bewegung. Ich treibe gern Sport“, so Pastor Bollmann.
In Brockel haben Erwachsene jetzt die Aufgabe, den Kindern zu erklären, dass die dreijährige Freundin tot ist. Wie überbringt jemand kindgerecht solch eine Nachricht? „Wenn Kinder betroffen sind, sind ein paar grundlegenden Punkte zu berücksichtigen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen, sie erleben Notsituationen anders als Erwachsene“, sagt Bollmann. Es sei sinnvoll, frühzeitig geeignete und dem Kind vertraute Bezugspersonen einzubeziehen. „Wenn Kinder nachfragen, ist es wichtig, kurze, klare und leicht verständliche Sätze zu verwenden“, erklärt er. Man könne den Kindern Aktivitäten wie ein Bild malen oder eine Kerze gemeinsam aufstellen ermöglichen. Auch sollten Gefühle der Erwachsenen keinesfalls vor den Kindern versteckt werden. „Zudem gilt es, die Reaktionen der Kinder erst mal abzuwarten und zu beobachten. Fragen der Kinder sind ehrlich und altersgerecht auf der Grundlage des momentanen Wissensstandes zu beantworten“, so der Notfallseelsorger. Und: „Kinder sind von Schuldgefühlen zu entlasten.“