TEin Arzt packt aus: Die häufigsten Lügen bei der Krankmeldung

Ein Bremerhavener Arzt sagt: Etwa jeder zehnte Patient versucht, sich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschleichen – obwohl er nichts Ernsthaftes hat. Foto: Monika Skolimowska/ZB/dpa
Knie verdreht, Magengrummeln, Halsweh – alles nur geflunkert? Immer mehr Patienten versuchen, sich Krankschreibungen zu erschleichen. Was dieser Arzt in seiner Praxis erlebt.
Bremerhaven. Etwa jeder zehnte Patient in seiner Praxis fordert eine Krankschreibung ein, obwohl er nicht richtig krank ist. Das sagt ein Bremerhavener Arzt und schildert in einem Interview mit der „Nordsee-Zeitung“, was die häufigsten Tricks sind. Außerdem: Er hat einen wichtigen Appell an die Patienten.
Auch das TAGEBLATT nennt den Namen des Arztes nicht, weil dieser andernfalls nicht ungefiltert sprechen könnte.
Frage: Ist nicht jeder krank, der eine Krankmeldung möchte – und sind das Einzelfälle?
Antwort: Leider nein. Ich sehe jeden Tag knapp 100 Patienten. Etwa jeder Zehnte ist nicht wirklich krank und will sich eine Krankmeldung erschleichen. Die Zahl der Fälle hat in den vergangenen Jahren erschreckenderweise sehr stark zugenommen. Ich gehe davon aus, dass das mit der allgemeinen gesellschaftlichen Verrohung zu tun hat. Mich macht diese Entwicklung wirklich traurig.
Wir wollen doch für die Leute da sein, die wirklich krank sind. Die Bevölkerung muss akzeptieren, dass jede Krankschreibung irgendjemanden schädigt, entweder den Arbeitgeber oder das Sozialsystem. Es kostet Geld. Mein Appell an die Menschen ist, damit verantwortungsvoller umzugehen.
Wie gehen Sie als Arzt damit um?
Ich muss fair sein, gegenüber dem Patienten, aber auch gegenüber dem Arbeitgeber. Nur so wahre ich auch mein Berufsethos. Ich bin ganz gewiss kein „Doc Holiday“. Im Gesetz steht ganz klar: Die Arbeitsunfähigkeit wird vom Arzt festgestellt. Darüber entscheidet nicht der Patient.
Was mir auffällt: Zahlreiche Patienten kommen mit Bagatellerkrankungen zum Arzt. Klassisch ist: Ich bin heute Morgen wach geworden, das Handgelenk tat weh – obwohl es keinen Unfall gab. Normalerweise würde man erwarten, dass der Patient erst einmal abwartet, ob man sich einfach nur verlegen hat. Die Patienten erscheinen dann ganz bewusst mit der Vorstellung: Ich möchte eine Krankmeldung haben.
Was sind denn die häufigsten Tricks, um eine gefakte Krankmeldung zu bekommen?
Beliebt ist: Ich habe mir beim Gehen das Knie verdreht und hatte plötzlich morgens Schmerzen. Ich habe mich an der Schreibtischkante gestoßen oder mir den kleinen Finger verdreht. Rückenschmerzen kann man auch immer gut vorgeben.
Tennisellenbogen ist sehr beliebt. Bei Google erfährt man auch, wo es genau wehtun muss. Häufig werden die angeblichen Beschwerden in den Zusammenhang mit dem Beruf gestellt: Eine Kellnerin hat auch gerne mal Schmerzen im linken Handgelenk oder im Knie, wo der Arzt aber nichts findet. Das sind die Klassiker.
Wie wird denn noch getrickst?
Es gibt Bagatellunfälle mit dem Auto: Man fährt in Schrittgeschwindigkeit rückwärts aus einer Parklücke und kracht dabei in ein anderes Fahrzeug. Gutachter sagen: Es ist völlig unmöglich, dadurch ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule zu erleiden. Genau das wird dann aber behauptet. Schmerzen und eine eingeschränkte Beweglichkeit werden vorgetäuscht.
Es kommt vor, dass ich Patienten beim Reingehen in die Praxis sehe. Da können sie den Kopf noch problemlos drehen. Bei der Untersuchung geht das dann plötzlich nicht mehr. Es geht diesen Patienten häufig darum, Schmerzensgeld von der Versicherung zu bekommen. 300 bis 500 Euro Schmerzensgeld werden schnell ausgezahlt, wenn ein Patient damit zweimal beim Arzt war.
„Blaumachen“
Hoher Krankenstand: Das sind die wahren Gründe
Können Sie einen konkreten Beispielfall nennen, wie ein solches Gespräch mit einem Patienten abläuft?
Kürzlich hatte ich gerade einen Patienten, der sagte: Ich bin auf die Rampe gegangen, und plötzlich spürte ich ein Knacken und Schmerzen im Knie.
Ich war mit der Knieuntersuchung noch nicht fertig, da sagte er schon: Ich habe mir gedacht, ich wollte mich ganz gerne die nächste Woche rausnehmen. Diese Patienten kommen mit einer ganz klaren Vorstellung, wie lange sie krankgeschrieben werden wollen. Meistens ist der Wunsch: mindestens eine Woche, oft sogar mindestens zwei Wochen.
Wie leicht ist es für einen Arzt erkennbar, ob jemand flunkert oder wirklich krank ist?
Es gibt gewisse Druckpunkte und Muskelfunktionstests. Man kann daher einen Patienten ganz schnell entlarven, wenn er Beschwerden vortäuscht. Wenn man lange Arzt ist, hat man außerdem ein Gefühl dafür, ob jemand krank oder verletzt ist. Der Gesichtsausdruck ist ein anderer.
Wie man läuft, wie man sich verhält, wie man ein Gespräch führt – das sagt sehr viel aus. Niemand, der wirklich krank ist, würde noch während der Untersuchung nach einer Krankmeldung fragen. Der will einfach nur Hilfe haben, hat Angst und will gesund werden.
Verteilt sich das Spiel auf alle Berufsgruppen?
Da gibt es schon Unterschiede. Menschen mit einer hohen beruflichen Verantwortung und Wertschätzung für den eigenen Beruf sind weniger krankgeschrieben.
Vor allem Hafenarbeiter verlangen überproportional häufig einen gelben Schein. Auch wenn nur der kleine Finger verdreht ist, fühlen sie sich nicht in der Lage zu arbeiten. Erst nach zwei bis drei Wochen sehen sie sich bereit, ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen.
Gibt es weitere Auffälligkeiten?
Auch bei Magistratsmitarbeitern kommt es auffallend häufig vor, dass versucht wird, eine Krankschreibung zu bekommen, obwohl es nicht angebracht ist.
Bei Bürotätigkeiten wird angegeben, dass man sich den kleinen Finger geklemmt hat und krankgeschrieben werden muss, weil man nur mit zehn Fingern schreiben kann. Ich verlange dann eine Bescheinigung des Arbeitgebers, dass der Patient nur einsetzbar ist, wenn er alle zehn Finger benutzen kann. Die Patienten verabschieden sich dann genervt.
Kennen Sie Kollegen, die „Doc Holiday“ sind?
Es gibt einen Arzt, von dem ich weiß, dass er das in großem Stil macht und sagt: Ich habe keine Lust mehr zu diskutieren. Das sind oft Ärzte, die in Richtung Rente gehen und müde vom System sind.
Bekommen Sie Druck, wenn Sie jemanden nicht krankschreiben?
Im Zweifel bekomme ich bei Google eine schlechte Bewertung. Das muss ich aushalten. In der Regel sind die Patienten wütend. Es heißt dann: Der Arzt hat mich nicht ernst genommen, obwohl ich stärkste Schmerzen hatte.
Was können Sie denn tun, um gegenzuhalten?
Um Patienten zu zeigen, dass ich nicht von ihrer Arbeitsunfähigkeit überzeugt bin, und auch um dem Arbeitgeber ein Signal zu geben, schreibe ich jemanden erst einmal nur für drei Tage krank. Dann ist er unglücklich, kommt wieder und will weiter krankgeschrieben werden, am besten für zwei Wochen. Das mache ich aber nicht.
Ich schreibe ihn wieder für drei Tage krank und dann wieder für drei Tage. Dann stellt der Arbeitgeber fest: Moment mal, für eine Krankschreibung von zwei Wochen ist der Patient dreimal beim Arzt vorstellig geworden. Das ist dann schon auffällig. Wenn es wirklich frech ist, lehne ich eine Krankmeldung komplett ab.
Sind Ihnen Fälle bekannt, dass Menschen tricksen, um abschlagsfrei in Frührente zu kommen?
Ja, das sind aber zum Glück Einzelfälle. Es gibt Patienten, die sammeln bei jedem Arzt irgendwas und damit Punkte für die Rentenversicherung. Knieschmerzen, Arthrose, eine Bandscheiben-Operation bringt schon mal 20 Prozent an Rentenpunkten. Ab 50 Prozent ist die Frührente abschlagsfrei möglich. Manch einer schreckt sogar nicht davor zurück, sich an etwas operieren zu lassen, was eigentlich nicht unbedingt notwendig ist, um an die begehrten Punkte zu kommen. Viel wird zudem über psychische Erkrankungen versucht.
Exkurs: Fehlende Arbeitsmoral, hoher Krankenstand
Die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung bleibt umstritten: Arbeitgeber sehen einen deutlichen Zusammenhang zum Anstieg bei den Krankmeldungen.
Noch FDP-Chef Christian Lindner hatte daher bereits für die Abschaffung der in der Corona-Zeit eingeführten telefonischen Krankschreibung plädiert. Auch Firmen fordern, dass die Krankschreibung ohne Arztbesuch wieder abgeschafft wird. Die meisten Ärztevertreter wollen hingegen daran festhalten. Doch auch in medizinischen Kreisen ist die Regelung umstritten.
Danilo Genske, Geschäftsführer des Unternehmensverbandes Cuxhaven und Elbe-Weser-Dreieck (UVC), hatte betont: Seitdem die Krankschreibung per Telefon möglich ist, „gibt es doch einen erheblichen Anstieg beim Krankenstand“.
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KV: Vorteile der telefonischen Krankmeldung überwiegen Missbrauchspotenzial
Der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung im Land Bremen, Christoph Fox, betont hingegen, die telefonische Krankschreibung mit festen Regeln reduziere den Andrang in den Praxen und entlaste das Personal. „Ein Verbot wäre eine unverhältnismäßige Maßnahme, da die Vorteile der telefonischen Krankschreibung das Missbrauchspotenzial bei weitem überwiegen“, sagt Fox.
Vor kurzem hatte der Allianz-Vorstandsvorsitzende Oliver Bäte eine Debatte über den Krankenstand in Deutschland angestoßen. Dieser liegt statistisch im internationalen Vergleich hoch. Bäte sprach sich dafür aus, die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag zu streichen. Daraufhin hagelte es Kritik, etwa vom Deutschen Gewerkschaftsbund.
Noch nie wurde so häufig Dienst nach Vorschrift gemacht
Kritiker der telefonischen AU stellen immer wieder einen Zusammenhang her, dass so das Blaumachen erleichtert werde. Dazu passt eine aktuelle Studie, die belegt: Noch nie wurde so häufig Dienst nach Vorschrift gemacht wie im vergangenen Jahr. Emotionale Bindung, Loyalität und Vertrauen in die finanzielle Zukunft des Arbeitgebers seien dagegen eingebrochen, fanden Wissenschaftler des Instituts Gallup für den Gallup Engagement Index 2024 heraus.
Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft stellt in einer Erhebung fest, dass sich die Kosten für die Entgeltfortzahlung zuletzt innerhalb von 14 Jahren verdoppelt hätten. 2023 hätten die Arbeitgeber 76,7 Milliarden Euro für die Entgeltfortzahlung ihrer erkrankten Beschäftigten aufbringen müssen.