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Bundestagswahl

TEin Dorf wählt rechts: Warum in Geestenseth jeder Dritte AfD gewählt hat

Sie können es kaum fassen, dass die AfD bei der Bundestagswahl in ihrem Dorf so erfolgreich war: Geestenseths Ortsbürgermeister Oliver Härtl (CDU, links) und Jörg Rohde (Freie Bürger)

Sie können es kaum fassen, dass die AfD bei der Bundestagswahl in ihrem Dorf so erfolgreich war: Geestenseths Ortsbürgermeister Oliver Härtl (CDU, links) und Jörg Rohde (Freie Bürger) Foto: Hansen

Wahlen machen die Volksparteien CDU und SPD in Niedersachsen traditionell unter sich aus. Bis zu dieser Wahl. Mancherorts wählte jeder Dritte rechts. Wie in Geestenseth.

Von Inga Hansen Sonntag, 09.03.2025, 14:50 Uhr

Geestenseth. Es dauerte nicht lange, bis in Geestenseth die Stimmen ausgezählt waren. 759 Wahlberechtigte hat das Dorf, das ist nicht die Welt. Doch die Wahlbeteiligung war hoch. Drei Viertel der Dorfbewohner, genau 573 Wähler, haben diesmal ihr Kreuzchen gemacht.

Um 18.30 Uhr stand das Ergebnis fest. Und alle politisch Engagierten in dem 1000-Seelen-Dorf waren entsetzt: 175 Geestensether wählten AfD. Sie haben die Rechtspopulisten mit 30,6 Prozent zur stärksten Partei im Ort gemacht. CDU und SPD folgten abgeschlagen, mit 23,5 beziehungsweise 20,1 Prozent.

Ortsbürgermeister: „Das war ein Schock“

„Das war ein Schock“, sagt Ortsbürgermeister Oliver Härtl, „damit hätte ich niemals gerechnet.“ Härtl ist CDU-Mitglied, ein umtriebiger Mittvierziger, der in der Stadt groß geworden ist, in Wilhelmshaven, aber das Landleben lieben gelernt hat. Von Beruf Logistik-Leiter im Baumarkt Obi in Bremerhaven, war er Schulelternratsvorsitzender und Schützenkönig, seit eineinhalb Jahren ist er Ortsbürgermeister. Einer der Ortsbürgermeister, die ihr Dorf wirklich vorantreiben.

Geestenseth hat ein lebendiges Dorfleben. Die Vereine haben es geschafft, sich ein eigenes Haus der Vereine hinzustellen, die die 900-Jahre-Feier, die wegen Corona ausfiel, holten die Geestensether einfach drei Jahre nach, und es wurde ein rauschendes Fest. Jetzt haben sie gerade den Kreiswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ gewonnen und bewerben sich nun um den Landestitel.

Eine Zukunft, die für den Reinhard-Mey-Fan und Blues-Rock-Gitarristen Oliver Härtl aber nur so aussehen kann, dass alle Kulturen im Ort gut zusammenleben. „Ausgrenzung“, sagt er, „ist Gift für ein Dorf. Und da ist das Wahlergebnis ein Schlag ins Gesicht.“

Wärner: Geestenseth hat eine gute Infrastruktur

„Das ist ein Warnsignal“, findet Schiffdorfs Bürgermeister Henrik Wärner. Auch der CDU-Verwaltungschef hat keine Erklärung für das Abdriften nach rechts. Geestenseth sei ein Dorf, das von der Infrastruktur her gut dasteht, sagt er.

Es gibt den Bahnhof, also eine gute Anbindung, aber auch der Standort für die Theatergruppe „Das letzte Kleinod“, die ungewöhnliche Aufführungen ins Dorf bringt, es gibt das „Haus der Vereine“, das vier Vereine mit Unterstützung von EU und Gemeinde gebaut haben, es gibt einen Bäcker, einen Arzt, eine Apotheke.

Klar, der Ort hat Schandflecke. Die beiden Gaststätten, die die Ortsmitte einst prägten, stehen seit Jahren leer und rotten vor sich hin. Der Eigentümer, der die Schrottimmobilien billig ersteigert hat, macht nichts an den Gebäuden. Ein großes Ärgernis im Dorf.Und vielleicht auch der Grund, warum mancher Geestensether aus Protest AfD wählt, vermutet ein Anwohner.

Oliver Härtl schüttelt den Kopf. Der Ortsbürgermeister weiß von einigen, dass sie rechts gewählt haben. Schließlich wohnt man auf dem Dorf, da kennt man sich. „Die sagen mir alle, ‚Du Olli, das hat nichts mit Dir oder dem Ort zu tun. Wir machen das aus Frust über die Regierung. Die da oben, die dürfen nicht so weitermachen wie bisher‘“, sagt er.

„Ihr seid ja schuld, dass die alle reingekommen sind“

Ist also das Ampel-Chaos schuld? Eine Erklärung ist das nur bedingt. Früher hätte man in einem Dorf wie Geestenseth selbstverständlich sein Kreuz bei der CDU gemacht, wenn man eine SPD-geführte Regierung abwählen will. „Heute wird nur abgewunken, wenn man die CDU ins Spiel bringt“, sagt der CDU-Mann Härtl. „Da heißt es ‚Ihr seid ja schuld daran, dass die alle reingekommen sind‘“.

„Die alle“ meint natürlich die Asylbewerber. Migration ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt, mit dem die AfD punktet. Erst recht nach den Anschlägen in Magdeburg und Aschaffenburg. Selbst wenn man im kleinen Geestenseth friedlich mit den rund 40 Asylbewerbern zusammenlebt.

Das hat man 2015 getan, als Kanzlerin Merkel die Grenzen öffnete und Deutschland ein Synonym für Willkommenskultur wurde. Damals bildete sich im Ort eine rührige Flüchtlingsinitiative, auf dem Sportplatz kickte fortan Geestenseth gegen Eritrea.

Ein AfD-Wähler gibt Auskunft - aber anonym

Aber das tut man auch 2025. „Es gab nie Probleme“, sagt Jörg Rohde, gelernter Verwaltungsfachwirt und Frontmann der Freien Bürger im Ortsrat. Vermutlich würde das auch der einzige AfD-Wähler im Ort, der zu seinem Kreuzchen öffentlich steht, unterschreiben. Es ist ein junger Kfz-Meister, der seinen Namen nicht nennen mag. Er habe nichts gegen die Asylbewerber im Ort, versichert der Inhaber einer kleinen Autowerkstatt, er habe dort im Wohnheim sogar mal geholfen, als der Strom ausgefallen war.

Aber ein Land wie Deutschland, in dem die kleinen Leute kaum noch Geld in der Tasche hätten, in dem Rentner Pfandflaschen sammeln müssten und in dem man nicht mehr ohne Übersetzer ins Krankenhaus gehen könne, müsse sich erst mal selber helfen. „Deutschland zuerst“, das ist das Credo der AfD.

Als kleiner Selbstständiger fühle er sich „wie eine Weihnachtsgans, die ausgenommen wird“, klagt der 35-Jährige. Nicht nur von denen, „die sich Paläste hinstellten“, sondern auch von denen, die schwach sind, den Fremden, die ins Land strömen, vom Sozialstaat leben oder straffällig werden. Bei ihm sei ein Syrer beschäftigt, „der schämt sich für die Asylbewerber, die hier ins Land kommen“, betont er.

Die Angst vor dem sozialen Abstieg

Aus seinen Worten spricht die Angst. Die Angst vor dem Verlust des Lebensstandards, vor dem sozialen Abstieg, vor den Fremden, die offenbar an allem schuld sind, was schiefläuft. Er habe Kunden, die in Bremerhaven-Lehe ihre Wohnungen verkauften, weil sie sich nicht mehr trauten, hinauszugehen.

Dass die CDU kurz vor der Bundestagswahl mit dem Manöver von Friedrich Merz das Asylrecht massiv verschärfen wollte, kommt bei ihm nicht mehr an. Der Automechaniker winkt nur ab: „Das sind doch Versprechungen. Die reden doch nur, dass sie die Grenzen dichtmachen, die machen nichts.“

„Wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen“, findet Thorsten Ohlandt. Der Christdemokrat aus Geestenseth, der auch im Kreistag sitzt, ist entsetzt von dem Wahlergebnis: „Wir machen hier im Ort so viel. Und dann das.“ Seine CDU werde das Wahlergebnis genau unter die Lupe nehmen, verspricht er. Zumal in eineinhalb Jahren, im Herbst 2026, Kommunalwahlen stattfinden.

Und was wird bei der Kommunalwahl 2026?

An die denkt auch Jörg Rohde. „Bislang“, sagt der Verwaltungsmann, „sind die Rechten zwar unter uns, aber man kann es nicht wirklich greifen.“ Die Bundestagswahl sei eher anonym, das wird 2026, bei der Kommunalwahl, ganz anders. „Dann wird es ernst. Wird die AfD hier im Ort Kandidaten finden? In der Gemeinde? Werden sich die Leute tatsächlich outen? Da müssen wir als Demokraten gegenhalten“, findet er.

Oliver Härtl hat seinen Traum von Geestenseth noch nicht aufgegeben. „Wichtig ist, dass wir hier im Dialog bleiben“, findet der Ortsbürgermeister. Der Zusammenhalt, das Engagement, das Einstehen füreinander bleibt ihm wichtig. „Die Geestensether standen immer Gewehr bei Fuß, wenn jemand Hilfe braucht“, sagt er.

Und er kann noch nicht recht glauben, dass wirklich jeder Dritte im Dorf Hilfsbedürftige wie die Flüchtlinge am liebsten wegjagen will. Als wenn man damit die wirklichen Probleme, vor denen Deutschland steht, auch nur ansatzweise lösen könnte, sagt er kopfschüttelnd.

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