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Hintergründe

TGeiselnahme am Flughafen: Nachbarn berichten von dramatischen Szenen in Stade

In diesem Wohnhaus in Stade hat die Mutter mit ihrer kleinen Tochter gelebt. Ihr jetziger Aufenthaltsort ist nicht bekannt.

In diesem Wohnhaus in Stade hat die Mutter mit ihrer kleinen Tochter gelebt. Ihr jetziger Aufenthaltsort ist nicht bekannt. Foto: Alexandra Bisping

In der Stader Nachbarschaft war bereits bekannt, dass es zwischen Salman E. und seiner Ehefrau nicht gut lief. Doch wie kam es dazu, dass der Mann seine vierjährige Tochter entführte und den Hamburger Flughafen lahmlegte? Eine Spurensuche in Stade.

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Von Alexandra Bisping
Montag, 06.11.2023, 20:26 Uhr

Stade. Laut einem Zeugen aus der Nachbarschaft soll die Mutter auf der Straße gestanden, geschrien und versucht haben, das Auto zu stoppen, in dem ihr Ex-Partner und die gemeinsame Tochter saßen. Das berichtete am Montag ein Nachbar der 38-Jährigen dem TAGEBLATT.

Der Mann habe die Frau auf der Udonenstraße fast angefahren, danach sei sie zusammengebrochen. Der Nachbar war nach eigenen Angaben Zeuge der Kindesentführung geworden. Der Mann soll die Ex-Partnerin mit einer halbautomatischen Selbstladekurzwaffe bedroht und dabei einen Schuss in die Luft abgegeben haben. Mittlerweile ist bekannt, dass der Täter aus rechtlicher Sicht keine Waffe haben durfte. „Der Beschuldigte befindet sich nicht im Besitz einer waffenrechtlichen Erlaubnis“, sagte Oberstaatsanwältin Liddy Oechtering.

Mutter hat Andeutungen gegenüber einer Bekannten gemacht

Eine Frau, die ebenfalls in der Nähe wohnt, sagte gegenüber dem TAGEBLATT, sie und ihr Mann hätten sich im vergangenen Jahr einmal mit der Familie getroffen. In einem unbeobachteten Moment habe die Mutter ihr gegenüber Andeutungen gemacht, dass etwas nicht in Ordnung sei. Zwei Tage später seien Vater und Tochter weg gewesen. Es dürfte sich um den Zeitpunkt handeln, als Salman E. seine Tochter zum ersten Mal entführt und mit in die Türkei genommen hatte. Der Kontakt zwischen den beiden Familien sei anschließend eingeschlafen.

Der Vater habe seine Tochter geliebt, ist die Frau überzeugt. „Er hat sich sehr um sie gekümmert, hat viel mit ihr unternommen.“ Die Tat selbst finde sie absolut falsch. Aber nicht bei seinem Kind sein zu dürfen, sei hart.

Das sagt die Staatsanwaltschaft

„Am 6. März 2022 hat die Mutter Salman E. zum ersten Mal angezeigt“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft Stade, Kai Thomas Breas, auf Anfrage. Da hatte er die Tochter zum ersten Mal entführt. Er war mit ihr in die Türkei gereist. Anschließend habe die Mutter von ihrem Auskunftsverweigerungsrecht Gebrauch gemacht. Sie habe wohl versucht, die Situation mit ihrem Mann selbst zu regeln. Im Juli 2022 habe die Mutter dann eine einstweilige Anordnung beim Familiengericht Stade erwirkt. Es handele sich dabei um eine Art Vorverfahren zum Entzug des Sorgerechts.

Am 2. September 2022 sei die 38-Jährige noch einmal bei der Polizei gewesen und habe Salman E. zum zweiten Mal angezeigt. „Er gibt mir das Kind nicht“, habe sie gesagt. Sie sei in die Türkei gereist, sagt Breas. Am 17. September des vergangenen Jahres habe sie das Kind über Griechenland zurück nach Deutschland geholt.

3600 Euro Geldstrafe wegen Entziehung Minderjähriger

„Zwischen dem 2. und dem 17. September, das ist unser Tatzeitraum“, so der Staatsanwalt. Der Strafbefehl des Amtsgerichts Stade wegen Entziehung Minderjähriger wurde am 12. Mai 2023 erlassen. Er sei am 10. Juni 2023 rechtskräftig geworden. 90 Tage à 40 Euro - der Vater wurde zu einer Geldstrafe von 3600 Euro wegen Entziehung Minderjähriger verurteilt.

„Es gab auch einen Vorfall im März 2023“, sagt Breas. Da sei Salman E. wegen Hausfriedensbruchs angezeigt worden. Da das kein Anliegen der Allgemeinheit sei, habe die Mutter den Privatklageweg einschlagen müssen.

Jugendamt kennt die Familie des Geiselnehmers bereits

Was in Hamburg passiert sei, sei gewichtiger als die Kindesentziehung mit Waffe in Stade. Darum liege der Schwerpunkt jetzt in Hamburg. Der Ermittlungsrichter hat gegen Salman E. am Montag Haftbefehl erlassen.

Was Mutter und Tochter betrifft: Das Jugendamt des Landkreises Stade kennt die Familie des Geiselnehmers bereits und war am Wochenende auch im Einsatz. „Nähere Hintergründe können wir aus Gründen des Sozialdatenschutzes und aus Rücksicht auf das Kindeswohl an dieser Stelle nicht mitteilen“, hieß es auf Nachfrage.

Wo sich Mutter und Kind derzeit aufhalten und wie es dem vierjährigen Mädchen geht, wollte die Polizei aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht sagen. Während der 18-stündigen Geiselnahme sei das Kind auf dem Rollfeld des Flughafens aber mit Essen und Trinken versorgt worden.

Trauma-Expertin: Entführtes Mädchen braucht Zuwendung und Normalität

Aus Sicht der Trauma-Expertin Sibylle Winter braucht das Mädchen nun besonders viel Zuwendung und Sicherheit, aber auch Normalität. „Entscheidend ist, dass Unterstützung erfolgt, damit das Erlebnis ohne psychische Folgeschäden verarbeitet werden kann“, sagte die stellvertretende Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters an der Berliner Charité am Montag der Deutschen Presse-Agentur.

Es sei aber auch wichtig, das Kind gut zu beobachten, um mögliche psychische Folgestörungen schnell zu erkennen und zu behandeln. Die Unterstützung und das Auffangen müsse zunächst nicht unbedingt durch professionelle Therapeuten erfolgen: Es könne auch die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson sein, die sich intensiv um das Mädchen kümmere und ihr noch mehr Zuwendung gebe als sonst, sagte Winter.

Nicht jedes Kind entwickle nach einem schwerwiegenden traumatischen Ereignis eine psychische Folgestörung. „Etwa 15 Prozent der Kinder sind betroffen“, sagte Winter. Bei einem vierjährigen Kind könne sich zum Beispiel eine Trennungsangststörung entwickeln. Es bräuchte dann eine psychotherapeutische Behandlung, so Winter.

Besonders belastend wäre die Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung. „Wenn das Kind die Situation wochenlang immer wieder nachspielt und da nicht mehr herauskommt, würde ich professionelle Hilfe bei einer Traumaambulanz suchen“, so die Leiterin der Kinderschutz- und Traumaambulanz an der Charité.

Expertin: „Oft reichen schon wenige Behandlungsstunden“

„Oft reichen schon wenige Behandlungsstunden, damit das Erlebnis ein Stück weit verarbeitet und abgespeichert wird“, so die Kinder- und Jugendpsychiaterin und -psychotherapeutin. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung hätten Betroffene das Erlebte nicht abgespeichert und ständig das Gefühl, noch in der Situation zu sein.

„Schön wäre es auch, dass man noch einmal mit dem Kind über das Erlebte spricht, es noch einmal aufgreift, in Worte fasst“, so Winter. Dies könne auch die Mutter oder eine andere enge Bezugsperson tun, wenn sie sich dazu in der Lage fühle.

„Es ist auch wichtig, dass das Kind wieder einen normalen Alltag und eine Routine bekommt. Das vermittelt Sicherheit und Stabilität“, so Winter. Auch ein möglichst baldiger Kitabesuch sei wichtig. Dort müsse das Kind aber möglichst normal behandelt werden, damit es gut integriert ist und keine Sonderrolle einnimmt. Es gebe auch Kita-Berater, die in die Einrichtungen kommen und das Personal für solche Fälle schulen.

Zahl der Kindesentführungen ins Ausland zuletzt gesunken

Kindesentführungen sind in Deutschland kein Einzelfall, die Zahl der ins Ausland entführten Kinder ist in den vergangenen Jahren aber gesunken. Das zuständige Bundesamt für Justiz zählte für das Jahr 2022 mindestens 187 Fälle. In den drei Jahren zuvor waren es immer mehr als 300 Fälle, wie aus einer entsprechenden Jahresstatistik hervorgeht.

Die Zahlen zeigen allerdings kein vollständiges Bild, wie das Bundesamt betont. Denn: Nur die dem Amt gemeldeten Fälle werden erfasst. Eltern können sich aber auch beispielsweise direkt an Justizbehörden im Ausland wenden, um ihre entführten Kinder zurückzubekommen.

Das Bundesamt berät und unterstützt betroffene Eltern auf Anfrage im Rahmen des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ). Das Übereinkommen mit über 100 Vertragsstaaten soll Kinder im Fall von Entführungen in die teilnehmenden Länder schützen und dabei helfen, sie wieder in ihre Heimat zu bringen.

In den Fällen, die dem Bundesamt bekannt sind, wurden die meisten Kinder im vergangenen Jahr in die Länder Türkei (22), Rumänien (16) und Polen (15) entführt. Von allen Entführungen weltweit, die zwischen Vertragsstaaten des HKÜ stattfinden, sind in drei von vier Fällen Mütter verantwortlich, wie das Bundesamt mitteilte. (mit dpa)

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