TGraugänse treffen ihre Verwandtschaft in der Kehdinger Marsch
Naturphänomen: Graugänse haben einen ausgeprägten Familiensinn. Foto: Reinhard Paulin
Graugänse sind von der Forschung intensiv untersucht. Sie sind ausgeprägte Familientiere. Ganz aktuell treffen sie ihre Verwandtschaft auch in Kehdingen.
Kehdingen. Unbestrittener Gänse-Papst war Konrad Lorenz. Er fand zum Beispiel heraus, dass manche Situationen genau festgelegte Verhaltensweisen auslösen können. Und er konnte nachweisen, dass junge Graugänse meistens lebenslang auf die in der Kindheit gesehenen Objekte geprägt sind.
Dafür erhielt er 1973 den Nobelpreis. Graugans Martina war eines seiner wichtigsten Studienobjekte. Heute wissen wir vieles mehr über Graugänse. Denn Wissenschaftler können die Tiere mit Sendern versehen und viel präziser erkunden, wie sich ihr Leben gestaltet.
Jetzt im Herbst sind größere Gruppen von Graugänsen im Elbe-Weser-Raum unterwegs. Die seit vielen Jahren genutzten Rast- und Fressplätze kennen sie genau, denn Graugänse pflegen ihre Traditionen. Manche kommen von weither: zum Beispiel von der Odermündung oder aus dem Havelland.
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Es sind große Gänsefamilien, die sich zu Gruppen zusammengeschlossen haben. Hier finden sich Tanten, Onkel, Nichten und Neffen. Schwestern, so ergaben es Besenderungen, behalten eine besonders innige, lebenslange Bindung.
Wachtrupp warnt die Verwandtschaft vor dem Fuchs
Zum Verwandtenkreis kommen beim Familientreffen auch gute Bekannte hinzu. Etwa 100 Vögel sind es oft, die sich zusammenschließen. Für uns sehen sie alle gleich aus. Doch unter Graugänsen erkennt man sich sehr genau; etwa am Blick, am Verhalten und ganz besonders an ihren Rufen.
Es ist laut, die Luft von Geschnatter und Zurufen erfüllt. Das hilft beim Wiederfinden. Die Gänse wissen, wer ängstlich, mutig oder ein Haudrauf und Angeber ist. Auch in Trupps mit mehr als 1000 Gänsen bleiben die Verwandten und Freunde zusammen – so fühlen sie sich sicher.
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Einige im Gänsetrupp halten immer Wache und haben die Hälse hochgereckt. Sie stehen aufrecht am Rand der Gruppe. Der Fuchs könnte ja unterwegs sein. Dann wird sehr rechtzeitig gewarnt, denn Graugänse können hervorragend sehen und hören. Nach längerer Wache dürfen auch die Wachhabenden endlich fressen und andere Gänse übernehmen die Kontrolle.
Graugänse-Paare sind einander lebenslang treu
So ein Gänseleben verläuft nach klaren Regeln. Obwohl man als Graugans in Herbst und Winter immer das Zusammenleben in der Gruppe sucht, eine Trennung von der Familie kann schon vorkommen.
Leider ist für eine Graugans das Alleinsein grausam. Orientierungslos fliegt sie dann umher, ruft nach Partnern und Verwandten – doch sie sind nicht da und antworten nicht. Sie muss sich eine neue, unbekannte Gruppe suchen und hoffen, freundlich aufgenommen zu werden.
Wird es kalt, ziehen Graugänse weiter nach Holland oder gar nach England. Irgendwann nach 16 Jahren kommt der Tod. Graugänsepaare sind einander lebenslang treu. Deshalb scheint sie der Verlust des Partners oder der Partnerin stark zu treffen.
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Konrad Lorenz hat trauernde Gänse beobachtet: Sie sind dann viele Tage träge und müde, „sie lassen den Kopf hängen“. Und weiter schreibt er: „Auch wenn der Witwer vorher noch so hoch im Rang stand, (so) lässt er sich (nun) von den schwächsten und rangniedrigsten Artgenossen widerstandslos verjagen.“ Doch eine neue Partnerin wird sich bald finden und Freundschaften bleiben ja erhalten. Man ist als Graugans nicht allein.
Die Serie
Was kreucht und fleucht denn da in der Region? Wolfgang Kurtze, Vorsitzender der Lions-Naturschutz-Stiftung, schreibt über Phänomene und Kuriositäten in der Natur. Das TAGEBLATT veröffentlicht die Artikel des promovierten Biologen in loser Reihenfolge. Die erfolgreiche TAGEBLATT-Serie „Phänomene der Natur“ rückt kurzweilig Wissenswertes aus der Natur in den Mittelpunkt.
Jetzt ist der zweite Band von Wolfgang Kurtze im Buchhandel erhältlich. Herausgeber ist die Lions Stiftung Stade zur Förderung des Natur- und Umweltschutzes. Erhältlich ist das reich illustrierte und in Jahreszeiten gegliederte Werk im Buchhandel für 19,90 Euro.