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Rotarier-Programm

TKüssen verboten: Austauschschülerin vorzeitig nach Hause geschickt

Brasilien ist eines von gut 100 Ländern, in denen der Rotary-Youth-Exchange Schüleraustauschprogramme anbietet.

Brasilien ist eines von gut 100 Ländern, in denen der Rotary-Youth-Exchange Schüleraustauschprogramme anbietet. Foto: privat

Eine 16-jährige Schülerin reist für ein Jahr nach Brasilien. Doch nach drei Monaten ist Schluss. Unfreiwillig.

Von Heike Leuschner Montag, 11.11.2024, 15:00 Uhr

Wremen. Ein fernes Land entdecken, Jugendlichen aus aller Welt begegnen, eine neue Sprache lernen: Seit fast einem Jahrhundert ermöglicht Rotary Schülern, im internationalen Austausch in eine fremde Kultur einzutauchen und interkulturelle Erfahrungen zu sammeln.

Auch der Gymnasiastin Carlota aus Wremen gefiel dieser Gedanke. Nach der zehnten Klasse wollte die 16-Jährige für ein Jahr in Brasilien leben.

Werbung für Rotary Youth Exchance überzeugt zunächst

Während die Familie noch überlegte, mit welchem Anbieter der Schüleraustausch stattfinden sollte, lud Rotary ans NIG in Bad Bederkesa zu einer Informationsveranstaltung über sein Jugendaustauschprogramm ein. Dort geht auch Carlota zur Schule.

„Rotary bietet den Austausch nicht aus finanziellen Gründen an, sondern aus ideologischen, weil sie diesen Austausch toll finden. Das hörte sich gut an“, gibt Carlotas Mutter, Tanja Bach, ihre anfänglichen Eindrücke wieder.

Dass Rotary Familien auswählt, die nicht nur Kinder in den Austausch schicken, sondern auch Jugendliche aus anderen Ländern aufnehmen, kam ebenfalls gut an. Genauso wie die Vorbereitungsseminare für die Austauschschüler und deren Eltern.

Kein Alkohol, keine Straftaten, kein Sex

„Dort trifft man auf viele eloquente Leute und sieht viele schöne Powerpoints, auf denen einem erklärt wird, wie toll das ist und wie wunderbar die Kinder zurückkommen“, gibt Bach ihre Eindrücke aus einem Vorbereitungsseminar wieder. „Man hat immer Ansprechpartner – alles ist super organisiert – laut dieser Powerpoints.“ Zudem werde den Eltern ein großes Sicherheitsgefühl vermittelt.

Das liegt auch an den Regeln, die Rotary für sein Youth-Exchance-Programm aufstellt. „Diese Regeln wurden von Anfang an kommuniziert: kein Alkohol, keine Drogen, kein Fahren mit motorisierten Fahrzeugen, keine Straftaten und keine sexuellen Beziehungen. Das war alles akzeptabel“, sagt Bach.

Carlota verpflichtete sich schriftlich, sich daran zu halten. „Ich hatte nicht vor, die Regeln zu brechen“, sagt sie nach ihrer Rückkehr.

Doch es kommt anders: Als eine Gruppe junger Mädchen auf dem Schulhof ihrer brasilianischen Schule eine E-Zigarette herumgehen lässt, probiert auch Carlota. Zur Strafe wird sie für drei Tage von der Schule suspendiert.

Carlota verliebt sich in einen Austauschschüler aus Peru

Bestandteil des Jugendaustauschs sind auch regelmäßige Treffen aller Austauschschüler, die Rotary zur selben Zeit in einem Land betreut. Carlota berichtet von rund 25 jungen Leuten aus Europa, Asien und Amerika, die sie während ihres Austauschs in Brasilien kennenlernt. In Leonardo, einen Jugendlichen aus Peru, verliebt sie sich.

Ihre Eltern reagieren gelassen. „Wenn man so viele junge Leute ins Ausland schickt, ist das etwas, womit wir fast gerechnet haben“, sagt Carlotas Mutter. „Das war für uns okay. Aber wir haben ihr noch einmal gesagt: Du weißt, Rotary möchte keine sexuellen Beziehungen.“

Nach dem Kuss folgt der Verweis aus dem Gastland

Beim nächsten Jugendcamp Ende Oktober sind Carlota und Leonardo viel zusammen. Beim Spaziergang küsst sich das junge Paar. Eine Aufsichtsperson von Rotary habe sie gesehen, aber nichts gesagt, erzählt Carlota. „Am nächsten Tag kam dann die Mail, dass wir beide sofort das Land verlassen müssen.“

Carlota ist geschockt. Als Tanja Bach ihre in Tränen aufgelöste Tochter im Videochat erlebt, glaubt sie noch, dass sich die Strafe abmildern lassen würde. Doch alle Versuche, mit den Verantwortlichen vor Ort zu sprechen, seien gescheitert. Allein die Kontaktaufnahme sei sehr schwierig gewesen, berichtet Bach. Schließlich wendet sie sich an Vertreter des Rotary Clubs in Bad Bederkesa.

Auf Nachfrage erklärt der Beerster Jugenddienst-Chairman Wolfgang Völz, dass Entscheidungen über den Ausschluss vom Schüleraustausch im Gastgeberland getroffen werden. Er sei aber über informiert worden und halte die Entscheidung im Fall von Carlota auch für gerechtfertigt.

Rotarier: No Dates heißt auch No Kissing

„Ich habe vom Multidistrict aus Brasilien Hinweise erhalten, dass Carlota Regeln nicht eingehalten hat, obwohl explizit darauf geschult wurde. Dann muss man auch als junger Menschen mit den Konsequenzen leben.“ Dass die Rotary-Regel „No Dates“ auch „No Kissing“ bedeutet, darauf seien die Austauschschüler gleich in der ersten Orientierung in Brasilien hingewiesen worden.

Carlotas Wahrnehmung ist eine andere: Es sei zwar über die Regeln gesprochen worden, allerdings in genau der Form, wie es vorher auch in Deutschland gemacht wurde. Es sei nicht speziell auf das Thema Küssen eingegangen worden.

Völz wiederum berichtet, von den Verantwortlichen in Brasilien erfahren zu haben, dass Carlota nicht nur einmal, sondern zweimal beim Küssen gesehen worden sei. „Wenn nach der ersten mündlichen Verwarnung für das Küssen das abgetan und noch einmal praktiziert wird, kann ich solch ein Verhalten nicht verstehen.“

Rotary verteidigt sein strenges Regelwerk

Carlota dagegen bestreitet energisch, dass es bereits vor der Abmahnung eine Ermahnung gegeben habe. „Das entspricht auch nicht dem, was mir der brasilianische Chair in dem mit ihm geführten Telefonat gesagt hatte“, sagt ihre Mutter. „Er sagte mir, es habe Gerede unter den Jugendlichen gegeben, dass Carlota und Leo flirten würden. Er hätte zu dem Zeitpunkt noch nichts unternommen, da keine Beweise vorgelegen hätten. Mit dem Kuss hätte er dann aber den Beweis gehabt.“

Rotary-Governor Hans-Günther Gellersen verteidigt die strenge Linie: „Wir müssen konsequent sein: Wer uns seine minderjährigen Jugendlichen anvertraut, muss sicher sein, dass wir, sofern es möglich ist, unsere schützende Hand darüber halten“, sagt der Chef von 73 Rotary- und 13 Rotaract-Clubs im Nordwesten Deutschlands.

Beim Verbot sexueller Kontakte geht es Rotary darum, ungewollte Schwangerschaften und sexuell übertragbare Krankheiten zu verhindern.

Gellersen weist darauf hin, dass die ehrenamtlich tätigen Rotarier „den größten privaten, nicht kommerziellen Jugendaustausch der Welt organisieren“. Bei mehr als 100 beteiligten Ländern müsse Rotary viele verschiedene Kulturkreise berücksichtigen. „Wir brauchen dafür eine gewisse Einheitlichkeit bei den Regeln, um Schaden von den Jugendlichen und uns als Organisation abzuwenden.“

Auch aus Deutschland seien schon Austauschschüler zurückgeschickt worden, berichtet Völz. Im Bereich Bederkesa hätten zuletzt zwei beim Diebstahl ertappte Jugendliche vorzeitig gehen müssen.

Mutter sieht Verhältnismäßigkeit grob missachtet

Tanja Bach will nicht grundsätzlich das von Rotary aufgestellte Regelwerk verdammen. Doch sie sieht im Fall ihrer Tochter die Verhältnismäßigkeit zwischen Vergehen und Strafe grob missachtet:

„Für uns hörten sich die Regeln an, als würde es darum gehen, schwerwiegende Verstöße zu ahnden. Ich finde es naiv zu glauben, dass man so viele Jugendliche zusammenbringen kann, ohne dass Flirts oder Küsse ausgetauscht werden. Natürlich wollen Jugendliche mit 16, 17 Spaß haben. Wir schicken sie ja nicht in den Austausch, damit sie wie im Kloster leben.“

Im Nachhinein sagt Bach: „Wenn ich gewusst hätte, dass schon beim Küssen ein Rauswurf aus dem Land stattfindet, weiß ich nicht, ob ich dann diesen Austausch mit dieser Organisation mitgemacht hätte.“

Carlota beschreibt ihre Gefühlslage mit einer Berg-und-Tal-Fahrt. „Ich war glücklich, meine Familie wiederzusehen, aber dann hat mich die Realität eingeholt. Mal geht es mir gut, dann wieder schlecht. Ich bin sehr traurig.“ Geblieben ist der Kontakt zu Leo. „Wir möchten uns auf jeden Fall wiedersehen“, sagt die Schülerin.

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