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Awareness-Fälle

T„Männer-Gruppe nackt an der Bar“: Wenn Deichbrand-Gäste Grenzen überschreiten

Caro (links) und Johanna sind als mobiles Awareness-Team auf dem Festivalgelände unterwegs. Sie sprechen gezielt Menschen an, denen es nicht gutzugehen scheint.

Caro (links) und Johanna sind als mobiles Awareness-Team auf dem Festivalgelände unterwegs. Sie sprechen gezielt Menschen an, denen es nicht gutzugehen scheint. Foto: Hanke

Das Awareness-Team auf dem Deichbrand-Festival kümmert sich um Gäste, die Grenzüberschreitungen erlebt haben. Warum die Zahl der Fälle in diesem Jahr gestiegen ist und wie das Team vorgeht.

Von Leandra Hanke Sonntag, 21.07.2024, 15:17 Uhr

Johanna Bauhaus, Awareness-Leitung auf dem Deichbrand, steht in einer der wenigen Ruhe-Oasen auf dem Festival. „Talking Trees“, einem Waldstück mit Sitzmöbeln, Hängematten und Lichterketten. Laute Musik, Menschenmassen, viel Alkohol - wenn alles zu viel wird, können sich die Festivalbesucher hier hin zurückziehen.

Es ist 21 Uhr. Schichtwechsel. In dem gemütlich eingerichteten Zelt bespricht sich das Team, das insgesamt aus 20 Menschen besteht. Tag und Nacht, 24/7, ist der Awareness Point besetzt.

Deutlich mehr Awareness-Fälle als vergangenes Jahr

„Normalerweise ist tagsüber nicht so viel zu tun, aber wir hatten heute schon sehr viele Fälle“, berichtet Johanna. Konkreter werden möchte sie zum Schutz der Betroffenen nicht. Die Zahl der Einsätze seit Mittwochvormittag bis Freitagabend liegt im zweistelligen Bereich. Genauere Zahlen möchte das Deichbrand nicht veröffentlichen.

Es sind jedoch deutlich mehr Fälle, als vergangenes Jahr. Besseres Wetter, mehr Alkohol und dass sie als Anlaufstelle bekannter sind, vermutet Johanna als Gründe für den Anstieg. Es ist das zweite Jahr infolge, dass es auf dem Deichbrand Festival Awareness-Arbeit stattfindet.

Sexuelle Übergriffe, Antisemitismus, Diskriminierung: Wann das Awareness-Team hilft

Wenn sich Gäste nicht wohlfühlen, diskriminiert worden sind oder einen sexuellen Übergriff erlebt haben, können sie sich an das Awareness-Team wenden. Awareness, übersetzt Achtsamkeit, bedeutet aufmerksam und sensibel für die Probleme und Grenzen anderer zu sein.

Übergriffiges Verhalten, Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Transfeindlichkeit - jede Form der Diskriminierung wird auf dem Deichbrand nicht toleriert.

Das Ziel: Auf dem Festival sollen sich alle sicher und akzeptiert fühlen, unabhängig vom Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe, ethnischer Zugehörigkeit, Alter, Religion oder Fähigkeiten. Das noch stärker ins Bewusstsein von Gästen, Artists und Festivalcrew zu rufen, gehört zu den Aufgaben von Johannas Team dazu.

Sexismus auf Festivals weit verbreitet

Auf großen Veranstaltungen wie dem Deichbrand kommt es laut Johanna vor allem viel zu Sexismus. Dazu gehört das Bewerten von Körpern und Aussehen mit Zahlenschildern, das auf Campingplätzen sehr beliebt sei, sexistische Witze oder Catcalling, also verbale sexuelle Belästigung wie Nachpfeifen, Rufen. „Frühmorgens ist uns eine Gruppe von Männern gemeldet worden, die komplett nackt an der Bar standen. So etwas geht gar nicht“, sagt Johanna.

In so einem Fall schreitet das Awareness-Team ein, weist auf das Fehlverhalten hin. Je nach Situation, rufen sie die Security, Polizei oder Sanitäter dazu, mit denen sie eng zusammenarbeiten. „Wir sind aber auch nicht, die ‚Benimm dich gut Polizei‘“, stellt Johanna klar. In der Regel kommen die Gäste auf das Awareness-Team zu, so ihre Erfahrung. Johanna hat die Initiative „Safe The Dance“ gegründet und bietet Awareness-Schulungen an.

Wir sind immer auf der Seite von denen, denen etwas passiert ist

Johanna Bauhaus, Awareness-Leitung auf dem Deichbrand

In dem Awareness-Zelt ist ein Sichtschutz aufgebaut, dahinter sind zwei Liegen. Hier führen sie die emotionalen Gespräche, bei denen viele lieber nicht beobachtet werden wollen. „Wir sind parteilich, das bedeutet, wir sind immer auf der Seite von denen, denen etwas passiert ist. Wir stellen das Erlebte nicht infrage“, erklärt Johanna. Am Awareness-Point haben sie Getränke und Snacks, sowie Ohropax, Kondome, Sonnencreme, Traubenzucker, Pflaster, Tampons da. Auch Infomaterial über Beratungsstellen bei psychischen Problemen oder sexualisierter Gewalt liegen aus.

Mobile Crews auf dem Gelände im Einsatz

Während des Festivals sind immer mindestens zwei aus der Awareness-Crew als mobiles Team auf dem Gelände oder Campingplatz unterwegs. Zu erkennen sind sie an den pinken Westen. Mit Walkie-Talkies ausgestattet, laufen Johanna und Caro übers Infield, scannen die Umgebung, beobachten konzentriert, was um sie herum passiert.

Im Palastzelt sitzt eine Frau auf dem Boden und hält sich das Knie. Johanna spricht sie an, sie bedankt sich - Fehlalarm. Weiter geht es durch die Menge, die ausgelassen feiert und tanzt.

Awareness-Team kann Festival-Verbot aussprechen

Dann geht es Richtung Water Stage. Auf der Bühne ist ein Einspieler zu hören, der auf das Awareness-Team hinweist. Die Telefonnummer ist zu sehen. „Wenn ihr diskret Hilfe braucht, fragt nach ‚Wo gehts nach Panama‘“, sagt die Einspieler-Stimme. „Alle, die ein pinkes Awareness-Bändchen umhaben, können so angesprochen werden.“ Dazu gehört auch das Barpersonal, Security oder die Festivalcrew.

Johanna Bauhaus vom Awareness-Team.

Das Awareness-Team unter der Leitung von Johanna Bauhaus kümmert sich um die Sorgen der Festivalbesucher. Auf Zetteln, die im Hintergrund zu sehen sind, beantworten Festivalbesucher verschiedene Fragen, wie „Was hilft dir, wenn du Grenzüberschreitungen erlebst?“ Foto: Polgesek

Werden gewisse rote Linien überschritten, kann das Awareness-Team Gästen ein Festivalverbot aussprechen. Im vergangenen Jahr haben sie eine Gruppe, die Nazi-Flaggen aufgehängt hatte, vom Gelände verwiesen.

2023 berichteten Besucher zudem von Rechts-Rock und einem Hitlergruß auf dem Campingplatz. Bisher seien rechtsextreme Parolen, Symbole oder ähnliches nicht aufgefallen, so Johanna. Auch musste noch niemand das Festival verlassen.

Hinweis der Redaktion: Dieser Artikel wurde in Kooperation mit der Nordsee-Zeitung veröffentlicht.

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