TMit 38 Jahren unfreiwillig in Rente

Nadja ist mit 38 Jahren Rentnerin und auf ihren Rollator angewiesen. Die Sonnenbrille trägt sie, um Reize zu reduzieren. Dass sie noch lachen kann, verdankt sie ihrem Kämpfergeist. Foto: Sabine Krabbenhoeft
Nadja hat ME - ausgelöst durch einen Virus macht die Erkrankung den Alltag zur Herausforderung.
Butjadingen. Die Fahrt nach Stollhamm war anstrengend. Dabei waren es nur zweieinhalb Stunden als Beifahrerin im Auto. Aber für Nadja können solche Touren zu einem körperlichen Zusammenbruch, einem sogenannten Crash, führen. Dann geht nichts mehr.
„Ein schlechter Tag bedeutet reines Überleben in Einsamkeit, ohne TV oder Handy: notwendige Reizabschirmung. Dann muss ich liegen und hoffen, dass Schmerzen, Schwindel, Herzrasen, Tinnitus und zig mehr Symptome wieder etwas erträglicher werden“, sagt sie.
Nadja ist zu Besuch bei ihren Eltern in Stollhamm. Sie haben die 38-Jährige nach einem Arztbesuch im westfälischen Münster abgeholt. Der Mediziner ist auf Myalgische Enzephalomyelitis (ME, bekannter unter ME/CFS oder Chronisches Erschöpfungssyndrom) spezialisiert. Die Wartezeit für neue Patienten beträgt in der Praxis derzeit etwa ein Jahr. 2024 leben in Deutschland bereits 650.000 Menschen mit der Diagnose ME.
Alles beginnt mit einer Virus-Infektion
Nadjas Krankengeschichte beginnt im Februar 2022 mit einer Covid-Infektion. Sie bekommt plötzlich Herzrasen und Luftnot - so schlimm, dass sie sich selbst in die Klinik einweist. Doch statt sich langsam zu erholen, bleiben die Symptome bestehen. Zwei Monate später folgt die nächste Infektion. Ihr Hausarzt nimmt sie nicht ernst, er schiebt alles auf die Psyche. Im August erkrankt sie zum dritten Mal an Covid. Die gelernte Krankenschwester muss von der Arbeit abgeholt werden. Sie sieht sich außerstande, allein mit dem Auto nach Hause zu fahren.
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„Vielleicht ist alles Einbildung“, denkt sie. Sie nimmt Antidepressiva. Im Dezember steht die Wiedereingliederung an. Doch sie hat keine Kraft und muss die Arbeit abbrechen. Sie sucht sich Unterstützung bei der Selbsthilfegruppe „Long Covid Deutschland“. Der Austausch bestätigt ihre Wahrnehmung, dass die Symptome real sind.
Virus-Infektionen sind häufig die Auslöser
ME ist seit 1934 bekannt. Von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurde es 1969 als neurologische Erkrankung eingestuft. Auslöser ist häufig eine Virus-Infektion wie Pfeiffersches Drüsenfieber (Epstein-Barr), Grippe oder eben Covid. Aber im Gegensatz zu Long-Covid-Patienten tritt auch ein halbes Jahr nach einer Erkrankung keine Besserung ein. Im März 2023 geht Nadja in die Reha. Der Therapieplan wird flexibel gestaltet, aber jede Belastung ist zu viel.

Schlaf und Ruhe sind das Einzige, was hilft, wenn die Reize überhandnehmen und der Körper streikt. Foto: Sabine Krabbenhoeft
Die anhaltende Zustandsverschlechterung nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung (PENE = Postexertional Neuroimmune Exhaustion) ist ein Marker für ME. Auch Nadja erhält nun diese Diagnose. Eine weitere Covid-Infektion im Oktober 2023 gibt ihr den Rest. Aus leichten Einschränkungen werden schwere Symptome, die Ende 2024 ihren Höhepunkt erreichen.
„Ich war für drei Monate ein Vollpflegefall, bettlägerig, im Dunkeln und ohne Geräusche. Mein Geist war fit, der Körper unfähig, sich selbst zu versorgen. Ohne meine Lieblingsmenschen und den tollen Pflegedienst an meiner Seite wäre ich verwahrlost“, sagt sie.
Ein Viertel der Erkrankten kann das Haus nicht verlassen
Laut einer Studie der Berliner Charité können etwa die Hälfte der an ME-Erkrankten nicht mehr arbeiten. Ein Viertel kann das Haus nicht mehr verlassen und muss gepflegt werden. Kleine Aufgaben, wie ein Brot zu schmieren oder sich die Zähne zu putzen, können einen Crash auslösen. Es gibt Schwerstbetroffene, deren Körper so krank ist, dass neben weiteren organischen Schäden, der Verdauungstrakt aufgrund von Lähmungen nicht mehr in der Lage ist, Nahrung aufzunehmen.
Als Grundlage der Erkrankung nehmen Forscher derzeit eine Autoimmunerkrankung sowie eine schwere Störung des Energiestoffwechsels an. Ein Aufbautraining ist nicht möglich. Die Körpersysteme werden geschädigt und regenerieren sich nicht.
„Das Schlimmste ist, als Simulant bezeichnet zu werden“
Nadja kämpft sich zurück ins Leben. Ein „enormer Medikamentencocktail“, bestehend aus elf rezeptpflichtigen Arzneien, hält sie halbwegs stabil. In der Wohnung ist sie inzwischen auf ihren Rollator angewiesen. Statt eines Autos steht ein Rollstuhl in der Garage. Die Treppen bis zu ihrer Wohnung im zweiten Stock bedeuten hoher Puls, schwere Beine, Atemnot. Ausflüge sind selten geworden. Lebensmittel werden durch den Lieferservice eines Supermarktes bis an ihre Haustür gebracht.
Mal ganz ehrlich: wer legt sich freiwillig ins Dunkel, ohne Gesellschaft, ohne Reize? Das ist ein Zustand wie in der Hölle, gefangen im eigenen Körper mit hellwachem Geist.
Nadja
„Mal eben schnell etwas machen, ist nicht. Das Schlimmste ist, als Simulant bezeichnet zu werden. Mal ganz ehrlich: wer legt sich freiwillig ins Dunkel, ohne Gesellschaft, ohne Reize? Das ist ein Zustand wie in der Hölle, gefangen im eigenen Körper mit hellwachem Geist.“
Was hilft: Kraft einteilen
Das Pacing ist ein wichtiges Werkzeug geworden. Es bedeutet, zu lernen, mit der eigenen Energie hauszuhalten. Wenn es Nadja schlecht geht, darf sie nicht dagegen ankämpfen, sondern muss sich schonen. Im Klartext bedeutet das, sich ins Bett zu legen. Im Liegen werden die Muskeln am wenigsten beansprucht.

Der 16. Mai ist der Tag der ME-Betroffenen. In zahlreichen Großstädten demonstrieren die Menschen für mehr Unterstützung und Geldern für die Forschung Foto: privat
Ihren Arzt in Münster - er hat sich auf ME-Patienten spezialisiert - bezahlt sie privat, ebenso wie den Großteil der Arznei. Es gibt keine zugelassenen Therapien. Die Ärzte testen an ihren Patienten mögliche Ansätze. Bei Nadja sind Nerven-, Immun- und Gefäßsystem betroffen. Anträge auf Hilfeleistung durch die Krankenkasse oder das Amt sind mit der Erbringung zahlreicher Nachweise verbunden. Die junge Frau ist heute Rentnerin.
Wenig Forschung im Bereich ME
ME ist noch immer unzureichend erforscht. Das liegt zum Teil daran, dass Indikatoren fehlen, die ME eindeutig von anderen Erkrankungen abgrenzen. Für die Pharmaindustrie bietet eine solche Ausgangslage bei der Entwicklung von Medikamenten wenig Aussicht auf lukrative Einnahmen. Mit der Folge, dass unzureichend Geld in die Forschung über den Krankheitsverlauf fließt. Des Weiteren fehlt es an ausgebildetem medizinischen Fachpersonal, welches sich mit den Symptomen auskennt. Die Stigmatisierung der Betroffenen als psychisch Kranke verlängert oft den Leidensweg, bis die benötigte Hilfe genehmigt wird.

Auf Instagram berichtet Nadja von ihrem Umgang mit ME. Foto: privat
Auf Instagram berichtet Nadja (@Quatschfidel) fast täglich über ihre Erfolge und Misserfolge. Sie versucht damit, Betroffene aufzuklären und ihnen Mut zu machen. „Grundsätzlich bin ich ein lebensfroher, optimistischer Mensch und viel zu jung für diese Scheiß-Krankheit“, sagt sie.
Hier gibt es Hilfe
Auf der ME/CFS-Website finden Betroffene Informationen zu Ärzten, Medikamenten und wichtigen Formularen. Wer die Organisation mit einer Spende unterstützen möchte, ist hier richtig: https://mecfs-research.org/support/ . Auf Instagram berichten Menschen von dem Umgang mit der Krankheit: @healmecfs und @Quatschfidel.
Selbsthilfegruppe in Bremerhaven: https://selbsthilfe-bremerhavener.de/ und online (zum Beispiel): https://www.netzwerk-cfs.de/. In Münster hat sich Dr. Michael Kacik auf ME spezialisiert: Tel. 0251 3799 5609, Mail: termine@pro-vascular.de. Des Weiteren ist der 12. Mai der Tag der ME-Betroffenen. In zahlreichen Städten findet an diesem Datum eine Liegend-Demo statt.