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ME/CFS

TOdyssee von Arzt zu Arzt: Linda Burckhards Kampf gegen die Erschöpfung

Linda Burckhardt aus dem Kreis Cuxhaven leidet an einer lebenseinschränkenden Erkrankung, die sie an das heimische Bett fesselt.

Linda Burckhardt aus dem Kreis Cuxhaven leidet an einer lebenseinschränkenden Erkrankung, die sie an das heimische Bett fesselt. Foto: Hartmann

ME/CFS-Erkrankung: Linda Burckhard erzählt von ihrem täglichen Kampf gegen unerbittliche Erschöpfung und Hilflosigkeit. Wenn jede Bewegung zur Qual wird.

Von Andreas Schoener Sonntag, 07.04.2024, 17:50 Uhr

Ringstedt . Myalgische Enzephalomyelitis (ME) ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung mit vielfältiger Symptomatik. Ein Viertel der Erkrankten, so die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, kann das Haus nicht mehr verlassen. Viele sind bettlägerig, schätzungsweise 60 Prozent arbeitsunfähig. In Deutschland waren vor der Corona-Pandemie circa 250.000 Menschen betroffen, weltweit sind es rund 17 Millionen. Wissenschaftler gehen infolge der Pandemie von einer Verdopplung der Zahlen aus.

Nach dem Frühstück sofort wieder erschöpft

Heute hat Linda Burckhardt einen ihre „guten“ Tage. Um kurz vor 6 erwacht, schafft es die Ringstedterin, mit ihrem Mann am Esstisch zu frühstücken. „Danach bin ich geschafft“, bekennt die 58-Jährige, „ich muss erst mal wieder ruhen“, oft mit heruntergelassenen Rollos. Sie hat Schmerzen in den Muskeln und Gelenken, spricht von „Nebel im Kopf“, von verlangsamtem Denken, oft ist sie extrem lichtempfindlich.

„Wahrscheinlich durch familiären Stress, der sich über Jahre hinzog und durch Veränderungen auf der Arbeit verschlechterte sich mein Zustand nach 2014 mehr und mehr. Betroffen bin ich wahrscheinlich schon seit meiner Jugend oder sogar Kindheit“, erinnert sich die Mutter zweier mittlerweile erwachsenen Töchter. Linda Burckhardt hat lange Jahre in Reinkenheide als Krankenschwester gearbeitet, vorwiegend im Nachtdienst. Patienten hätten sie damals schon gefragt, ob sie ihr hochhelfen sollen, wenn sie vor ihrem Bett hockte, um etwas abzulesen, sagt sie und lächelt gequält.

„Ich wusste, irgendetwas kann nicht stimmen“

Aufgestanden ist Linda immer wieder, hat das Familienleben so gut bewältigt, wie es eben ging. Doch die Symptome wurden stärker. „Ich hatte zunehmend das Gefühl, das alles nicht mehr zu schaffen“, sagt sie leise. „Nach den Diensten benötigte ich die freien Tage, um wieder Kraft zu sammeln“, erklärt sie. „Ich wusste, irgendetwas kann nicht stimmen.“

Unter diesen Zuständen leidet nicht nur die Ringstedterin selbst, sondern auch die Familie. „Wenn wir alle zusammensitzen, zieht sich meine Frau oft nach kurzer Zeit zurück. Dann sind da zu viele Reize“, sagt Ehemann Bernd, der in Wechselschicht im Hafen arbeitet.

„Noch vor drei Jahren konnten wir Spaziergänge unternehmen, heute schafft es Linda - an guten Tagen - vielleicht in den Garten“, sagt Bernd traurig. Der Ehemann ist es auch, der den Haushalt schmeißt, unterstützt von einer Haushaltshilfe. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun würde“, sagt Linda. Sie und „ihr“ Bernd sind seit 28 Jahren verheiratet. Sie halten zusammen, „auch wenn die Lebensqualität auf der Strecke geblieben ist“.

Eine Odyssee zu verschiedenen Ärzten begann

Mehrere Infekte ab 2014, „Panikattacken“ - die, wie sie heute weiß, kleine Crashs waren - nahmen zu. Und die Schmerzen. Sie gehören zu ihr wie die Erschöpfung. Eine Ärzteodyssee begann. Keiner konnte Linda Burckhardt sagen, was los ist. Die Laborwerte waren unauffällig. „Das ist psychosomatisch, machen Sie eine Therapie gegen die Depression“ - Äußerungen dieser Art hat sie immer wieder gehört.

Also Psychotherapie. Die Depression besserte sich, die anderen Symptome blieben nicht nur, sondern verschlimmerten sich weiter.

„Erste Berichte von Long Covid-Patienten ließen mich aufhorchen“, sagt die 58-Jährige, „ich fand mich in deren Symptomen größtenteils wieder.“ Also habe sie im Internet nach der Wurzel allen Übels gesucht - und wurde fündig: Myalgische Enzephalomyelitis (ME), das war es. „Nur leider hatte ich immer noch keinen Arzt, der sich mit dem Thema befassen wollte.“ Der Neurologe, den sie zwischenzeitlich aufsuchte, habe bezweifelt, dass es die Erkrankung überhaupt gebe. „Ich hatte wegen der Symptome zunächst den Verdacht auf Fibromyalgie, die ebenfalls Schmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfung und Konzentrationsstörung hervorruft. Aber dieser Verdacht wurde vom Rheumatologen widerlegt.“

„Viele Ärzte kennen die Erkrankung nicht“

Darin sieht die Ringstedterin ein großes Problem. „Viele Ärzte kennen die Erkrankung nicht.“ Im Medizin-Studium werde sie bislang nicht gelehrt, obwohl sie seit 1969 von der Weltgesundheitsorganisation als neurologische Erkrankung gelistet sei. Auch die Zuzahlung für Medikamente sei ein großes Problem. „Die Krankenkassen anerkennen ME/CFS nicht und nehmen sie deshalb nicht ihren Leistungskatalog auf.“

An den schlimmsten Zwischenfall - ein großer Crash - erinnert sich Linda Burckhardt noch lebhaft: Im Juni 2019, einen Monat vor ihrer endgültigen Arbeitsunfähigkeit, fuhr sie allein 600 Kilometer zu ihrer Schwester. „Unterwegs war ich sehr lichtempfindlich“, sagt die Ringstedterin. „Zwei Tage nach der Ankunft ging nichts mehr. Ich konnte das Bett nur für kurze Zeit verlassen, fühlte mich mies und hatte Angst, es nie wieder nach Hause zu schaffen.“ Sie brach den Urlaub ab, fuhr zurück, als es ihr ein wenig besser ging. Danach war sie nur noch kurze Strecken unterwegs, bis Autofahren 2023 unmöglich wurde.

Bei der Übergabe: „Ich komme nicht wieder“

Im Juli 2019, „nach dem ruhigsten Nachtdienst seit langer Zeit“, ging gar nichts mehr. Bei der Übergabe sagte sie: „Ich komme nicht wieder.“ Die Rentenversicherung genehmigte nach einer Reha und einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben die Erwerbsminderungsrente. Befristet für zwei Jahre. Aber nicht Myalgische Enzephalomyelitis sei als Diagnose gestellt worden, sondern „Depression und somatoforme Schmerzstörung“.

„Das war für mich Schock und Erlösung zugleich“

Vor zwei Jahren dann erhielt sie in der Praxis von Professor Dr. Michael Stark, Leiter des Instituts für Verhaltenstherapie sowie Stress- und Fatigueforschung in Hamburg, die Diagnose ME/CFS. „Das war für mich Schock und Erlösung zugleich“, erinnert sich die Frau. Die Kämpfe gingen trotz Diagnose weiter. Sie habe mit ihrer Krankenkasse gerungen, um eine Physiotherapie zu erhalten und mit manch anderer Behörde, „weil die Erkrankung nicht bekannt und deshalb nicht anerkannt wird“. Wiederholt werde man in die psychosomatische Schublade gesteckt, empört sich Burckhardt, die bei ärztlichen Gutachtern darum kämpft, dass der Grad ihrer Behinderung erhöht wird. „Das kostet mich Kraft, die ich nicht habe.“

Seit einem Jahr liegt Linda Burckhardt im Bett. Das Notwendigste liegt um sie herum.

Seit einem Jahr liegt Linda Burckhardt im Bett. Das Notwendigste liegt um sie herum. Foto: aha

Alles für die Kommunikation mit der Außenwelt am Bett

Seit gut einem Jahr liegt Burckhardt im Bett. In ihrem Zimmer hat sie das Notwendigste um sich herum: Tablet, Handy zur Kommunikation mit der Außenwelt, Fernsehgerät für etwas Abwechslung an „guten“ Tagen. Sie malt, wenn sie kann, sie liest, wenn sie kann. Sie ruht sich aus, praktiziert Pacing, eine Methode, die Erkrankten helfen soll, die zur Verfügung stehende Energiemenge zu nutzen und das Risiko einer Verschlimmerung der Symptome zu verringern.

„Obwohl Myalgische Enzephalomyelitis häufiger vorkommt als Multiple Sklerose, verwechseln viele Ärzte diese Erkrankung mit der Fatigue, einer Erschöpfung infolge etwa einer Krebserkrankung. „ME ist aber eine eigenständige schwere Erkrankung“, betont Burckhardt, „Wenn bei Multipler Sklerose eine Bewegungstherapie hilfreich ist, dann ist sie bei ME/CFS kontraproduktiv, weil alles nur noch schlimmer wird“.

„Es gibt keine Stelle, die sich zuständig fühlt“

Die Ringstedterin sieht ihre Aufgabe im Moment darin, über diese Lebens-einschränkende Erkrankung aufzuklären. „Dies tue ich nicht nur für mich, sondern vor allem für die, die nicht für sich selber kämpfen können. Und das sind viele, zu viele, als dass sie einfach im Stich gelassen werden dürfen.“

Linda Burckhardt fordert eine Aufklärungskampagne, wie in den 1980er-Jahren, als die HIV-Erkrankung AIDS bekannt wurde. „Der Patient darf nicht genötigt werden, Ärzte über seine Erkrankung aufzuklären. Die Ressourcen der meisten Erkrankten lassen das nicht zu.“ Unzählige Mails habe sie geschrieben, an Behörden, an Politiker - ohne Erfolg. „Es gibt keine Stelle in Deutschland, die sich zuständig fühlt.“

Bei einer Liegend-Demonstration machen etwa fünfzig Demonstranten vor dem Roten Rathaus in Berlin aufmerksam auf die ME/CFS-Erkrankung.

Bei einer Liegend-Demonstration machen etwa fünfzig Demonstranten vor dem Roten Rathaus in Berlin aufmerksam auf die ME/CFS-Erkrankung. Foto: Joerg Carstensen/dpa

Situation ist prekär

Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS in Hamburg ist eine Organisation, die für die Rechte und Bedürfnisse von ME/CFS-Kranken eintritt. Die Situation der ME/CFS-Erkrankten sei aufgrund jahrzehntelanger Vernachlässigung des Krankheitsbildes prekär. Es gebe noch keine zugelassene Behandlung, kaum offizielle Anlaufgestellen, heißt es auf der Homepage des Vereins. Seit Anfang der 90er-Jahre findet am 12. Mai - dem Geburtstag von Florence Nightingale - der internationale ME/CFS-Tag statt. Die britische Krankenschwester gilt als Begründerin der modernen Krankenpflege und war selbst postinfektiös mit ME/CFS-ähnlichen Symptomen bettlägrig.

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