TPersonaleinsatz wird erhöht: Sie wollen unnötige Kaiserschnitte verhindern

Die Leitende Hebamme Mareen Kristin Michaelis (von links), der Sektionsleiter Geburtshilfe, Wael Al-Abssi, und Chefärztin Dr. Karen Wimmer-Freys sehen sich als ein Team. Foto: Agaplesion
Kaiserschnitte sollen im Diako Rotenburg nur bei medizinischer Notwendigkeit durchgeführt werden. Das engagierte Team setzt auf die Vorteile der vaginalen Geburt und erhöht dafür den Personaleinsatz.
Rotenburg. Wael Al-Abssi ist an diesem Tag seit 3 Uhr morgens auf den Beinen. Am Nachmittag im Gespräch mit der Mediengruppe Kreiszeitung sagt der Sektionsleiter Geburtshilfe am Rotenburger Agaplesion Diakonieklinikum: „Wenn ich nur Kaiserschnitte machen würde, könnte ich geregelt von 9 bis 17 Uhr arbeiten.“ Macht er aber nicht, denn er und seine Kolleginnen und Kollegen halten eine vaginale Geburt grundsätzlich für besser, sowohl für die Mutter als auch fürs Kind. „Ein Frauenkörper ist dazu da, schwanger zu werden. Die Natur hat diesen Weg gemacht“, sagt Al-Abssi. Dr. Karen Wimmer-Freys pflichtet ihm bei: „Dieser natürliche Weg macht Sinn, auch fürs Kind.“
Das brauche vonseiten der Ärzte und der Hebammen, die sich in Rotenburg als ein gemeinsames Team sehen, mehr Betreuung, als wenn man stärker auf Kaiserschnitte setzen würde. Das ist es Wimmer-Freys aber wert, dafür investiert sie Zwölf-Stunden-Tage und Nachtarbeit, aus „Idealismus“. Das sei Geburtshilfe, alles andere wäre Geburtsmanagement. Ein solches lehne man in Rotenburg ab, stattdessen nehme man in Kauf, dass wie zuletzt bei einer Sieben-Stunden-Geburt 19 Personen aus dem Ärzte- und Hebammen-Team im Einsatz seien. Und auch der Krankenhaus-Geschäftsführung ist es das offensichtlich wert, denn die Leitende Hebamme Mareen Kristin Michaelis berichtet, das Diako habe dafür Personal aufgestockt, und auch die Hebammen würden entsprechend entlohnt. „Wir stehen dahinter“, bestätigt Diako-Sprecher Lars Wißmann.
Chefärztin kritisiert steigende Rate von Kaiserschnitten
Wimmer-Freys kritisiert, dass in den vergangenen Jahrzehnten die Kaiserschnittrate bundesweit und auch weltweit gestiegen sei. Das liegt aus ihrer Sicht zum einen daran, dass eine Sectio für Krankenhäuser ökonomisch attraktiver, weil schneller und weniger personalintensiv sei. Übrigens: Volkswirtschaftlich gesehen sei eher die natürliche Geburt vorteilhafter, meint Al-Abssi. Er gibt ein Beispiel: In Brasilien liege die Kaiserschnittrate bei 80 Prozent und eine überdurchschnittliche Anzahl von Menschen, die durch eine Sectio auf die Welt kämen, hätten dort nun Asthma. Der Arzt sieht da einen kausalen Zusammenhang, das sei nicht nur für die Betroffenen schlecht, sondern auch fürs Gesundheitssystem. Hinzu komme mittlerweile, dass manche Ärzte gar nicht mehr das Handwerk für natürliche Geburten ausreichend beherrschten, weil sie zu sehr an Sectios gewöhnt seien. Zum anderen habe es auch „Lifestyle“-Gründe, meint die Chefärztin. Manche Frauen wollten die Geburt für einen Tag planen, an dem es ihnen passt. Wimmer-Freys: „Ein Kind ist aber keine Terminsache, mit einem Kind ist das Leben eben nicht mehr planbar.“
Und zum Dritten würden werdende Mütter von Internetmedien negativ beeinflusst. Dort würden die Themen Gewalt in der Geburtshilfe und Inkontinenz durch natürliche Geburt über Gebühr postuliert. Fälle von Gewalt gebe es allerdings auch in manchen Kliniken, die eben nicht so ein starkes Team wie Rotenburg hätten und wo Personalmangel herrsche. Und beim Thema Inkontinenz gebe es das Lager der Mediziner, die diese Fälle behandelten und somit nur die Negativbeispiele sähen und das Problem daher überbetonten.
Weniger Allergien, weniger Neurodermitisfälle
„Am Diako machen wir das auch, aber eben nicht nur das“, betont Wimmer-Freys. Und unterm Strich überwiegen aus ihrer Sicht bei einer gewöhnlichen Schwangerschaft die Vorteile der natürlichen Geburt. Zur Begründung nennt sie als Erstes „die positiven Effekte“ des Kontakts des Kindes mit der Scheidenflora der Mutter. Zu der gehörten Keime, die das Kind stabil machten, indem sie dessen Immunsystem stimulierten. Die Folge dieses sogenannten Mikrobioms: weniger Allergien, weniger Neurodermitisfälle unter den natürlich geborenen Kindern. Dafür gebe es statistische Belege.
Auf der Website des Agaplesion Diakonieklinikums Hamburg etwa ist wiederum zu lesen, dass diese These nicht wissenschaftlich bewiesen sei und dass es auch die Möglichkeit gebe, das Neugeborene mit einem zuvor in die Vagina der werdenden Mutter eingelegten Wattebausch abzutupfen – wobei auch der Nutzen dieser Methode wissenschaftlich umstritten sei.
In Hamburg gibt man wie in Rotenburg der vaginalen Geburt den Vorrang, allerdings lasse das dortige Agaplesion „nach ausreichender Aufklärung“ den Wunsch einer Frau zu, anstelle einer natürlichen Geburt einen Kaiserschnitt durchführen zu lassen.
Anders am Diako in Rotenburg: Dort lehnt die Geburtshilfe einen Kaiserschnitt ohne medizinische Indikation ab und verweist bei entsprechenden Wünschen seitens der werdenden Mütter auf andere Kliniken. Al-Abssi meint, er könne nicht verantworten, wenn es dadurch zu Komplikationen käme. Das käme für ihn einer Körperverletzung oder einem Kunstfehler gleich. „Eine solche OP ist ein größerer Eingriff durch mehrere Schichten“, erklärt er, mit entsprechend höheren Risiken im Vergleich zur vaginalen Geburt. Den Einwand, dass eine über diese Risiken aufgeklärte Frau ja über ihren Körper selbst bestimmen könne, lässt er nicht gelten. „Es ist ihr Körper, aber es ist mein Wissen.“ Und wider dieses Wissen will der Mediziner nicht handeln.
Freilich gibt es auch am Diako Kaiserschnitte, auch wenn man dort stolz darauf ist, die Kaiserschnitt-Quote 2024 auf 20,9 Prozent gesenkt zu haben, bei einem Bundesdurchschnitt von rund 34 Prozent. Vor einigen Jahren habe man auch in Rotenburg noch bei dieser Rate oder sogar darüber gelegen, erinnert sich Michaelis. Auch 2025 liege man bislang rund zehn Punkte unter dem Bundesschnitt und habe auch insgesamt im Vergleich zum Vorjahreszeitraum mehr Geburten als 2024 schon. „Werbung brauchen wir nicht“, so Michaelis selbstbewusst.
Es gebe Gründe auch von kindlicher Seite, etwa eine Querlage oder eine Fehlbildung, die für einen Kaiserschnitt sprechen könnten. „Dann sind wir die Ersten, die das auch so sagen“, betont Wimmer-Feys. Und auch für einen Kaiserschnitt habe man dann das nötige Know-how. „Kaiserschnitte mit medizinischer Indikation werden hier gut betreut“, verspricht Al-Abssi. Es gebe sogar Gründe, die eine natürliche Geburt unmöglich machten. Al-Abssi: „Wenn das erste Kind per Kaiserschnitt zur Welt kam und das zweite Kind weniger als ein Jahr später kommt, dann wird wieder ein Kaiserschnitt gemacht, weil die Gebärmutter für eine natürliche Geburt noch nicht geheilt ist. Dann müssen wir eine natürliche Geburt verbieten, selbst falls die Mutter das versuchen wollte.“
Es habe aber auch schon Frauen gegeben, die keinen Kaiserschnitt wollten und an anderen Kliniken wegen einer schwierigen Voraussetzung mit dem Wunsch für eine natürliche Geburt abgelehnt worden seien, und die in Rotenburg dann erfolgreich eine vaginale Geburt hatten.
Es gibt auch psychische Gründe für einen Kaiserschnitt
Es gebe aber auch psychische Gründe für einen Kaiserschnitt, die Al-Abssi akzeptiert. Das eindrücklichste, eindeutigste Beispiel sei, wenn eine Frau in der Vergangenheit einen Missbrauch erleben musste. „Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, dann kriegt sie die Sectio“, betont der Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe, über die Gefahren körperlicher Komplikationen kläre er natürlich trotzdem auf. Belege für die Missbrauchsgeschichte brauchen die Frauen nicht. „Wenn sie es sagen, dann glauben wir es“, sagt Wimmer-Freys deutlich. Und falls eine Frau lügt? „Wenn jemand so abgebrüht ist, dann ist das so.“
In anderen Fällen ist bei „Angst vor einer normalen Geburt“ aus Al-Abssis Sicht eher eine psychologische Betreuung nötig. Das sei aber nicht seine Aufgabe, er ist ja kein Psychologe. Wohl aber führe er ein Gespräch mit einer Frau, die sich einen Kaiserschnitt wünscht, bei Bedarf auch zwei Gespräche. Wichtig ist ihm dabei: Er berate nicht, er zeige neutral die jeweiligen Risiken auf. Und: „Ich überrede nicht, ich versuche nur, zu überzeugen.“ Er habe aber auch schon werdende Mütter gehabt, die gar nicht reden wollten und einen Gesprächstermin ausschlugen.
„Das stärkt die Bindung von Mutter und Kind“
Die Angst vor Schmerzen kann und will Wimmer-Freys den Frauen nicht nehmen. Das Geburtshilfe-Team helfe, aber die Gebärmutter arbeite von allein und den Wehen seien werdende Mütter nun einmal ausgeliefert. Hebamme Michaelis wirft ein, dass sie daher lieber von Geburtshilfe als von Geburtsmedizin spricht. „Es ist ein toller Effekt der Natur, dass die Schmerzen in dem Moment aufhören, in dem das Kind zur Welt kommt“, sagt die Chefärztin, „das stärkt die Bindung von Mutter und Kind.“
Nach einem Kaiserschnitt sei das Risiko einer Bindungsproblematik höher, gerade falls dabei eine Vollnarkose nötig geworden sei, ebenso das Risiko einer Wochenbettdepression.
Al-Abssi ergänzt, dass auch nach Jahren und Jahrzehnten bei Frauen noch das Gefühl hochkommen könne, versagt zu haben, weil sie sich gegen eine vaginale Geburt entschieden hätten. Deswegen habe eine solche sowohl für den Körper als auch die Psyche im Nachhinein Vorteile.
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Gleichzeitig will Wimmer-Freys mit der Erwartung einiger Frauen aufräumen, dass ein Kaiserschnitt die Planbarkeit erhöhe. Eine Frau habe einen Kaiserschnitt für den 2. Oktober gewollt, um künftig nach dem Geburtstag des Kindes frei zu haben. Die Wehen setzten früher ein, das Kind kam schon im September, erzählt die Ärztin mit einem leichten Schmunzeln, die 2024 aus Bremen ans Rotenburger Diako kam.
Vor allem aber müssten Frauen mit Kaiserschnitt im Durchschnitt länger im Krankenhaus bleiben als Frauen nach einer vaginalen Geburt. Wie die laut Wimmer-Freys „tragische Entwicklung“ in der Gesellschaft hin zu mehr Kaiserschnitten und Kaiserschnittwünschen zurückzudrehen sei, weiß die Ärztin auch nicht. Für Al-Abssi ist das ein Thema, das schon vor der Schwangerschaft beginne, etwa wenn niedergelassene Gynäkologen einen Kaiserschnitt empfehlen. Die Geburtshilfe des Diako könne nur durch gute Arbeit gegensteuern – wenn Frauen von ihren guten Erfahrungen dort anderen erzählen.
Geburt bleibt nach wie vor im Fokus
Laut Zahlen der Kaufmännischen Krankenkasse KKH kamen 2024 fast 34 Prozent der Neugeborenen per Kaiserschnitt zur Welt. Zwischen 2020 und 2024 lag die Kaiserschnittquote konstant bei über 30 Prozent. „Häufig liegt eine klare medizinische Indikation für einen Kaiserschnitt vor, zum Beispiel bei einer ungünstigen Lage des Kindes, einem Geburtsstillstand oder auffälligen Herztönen“, erklärt KKH-Expertin Vijitha Sanjivkumar. Die hohe Zahl der Kaiserschnittgeburten sei aber nicht allein durch Risikosituationen erklärbar. Auch individuelle Einflüsse wie Erfahrungen im eigenen Umfeld spielten eine Rolle. Manche wünschten sich eine planbare Geburt und wollten Risiken und Komplikationen einer vaginalen Entbindung umgehen. Zudem würden Frauen im Durchschnitt später Mutter als noch vor einigen Jahren. Mit steigendem Alter nähmen bestimmte Schwangerschaftsrisiken zu, was dazu führen könne, dass häufiger geplante Kaiserschnitte gemacht werden. (rk)