TPflegedienst-Pleite in Tarmstedt: Jetzt sprechen die Mitarbeiter

Eine Pflegerin hält die Hand einer alten Frau. Der Pflegenotstand macht sich vielerorts bemerkbar. So auch in Tarmstedt. Dort müssen sich 240 Patienten einen neuen Pflegedienst suchen. Foto: Christophe Gateau
Die Diakonie-Sozialstation in Tarmstedt ist zahlungsunfähig. Zum Monatsende stellt der ambulante Pflegebereich seinen Dienst ein. Jetzt melden sich die Pflegefachkräfte zu Wort.
Tarmstedt. Für die Patienten der Diakonie Sozialstation Tamstedt läuft die Zeit. Bis zum Monatsende müssen sie einen neuen Pflegedienst gefunden haben. Maximal zwei Wochen Zeit, um eine Alternative zu finden.
Wie berichtet, ist der Tarmsteder Pflegedienst insolvent und stellt die ambulante Pflege von rund 240 Patienten spätestens Ende Juni ein.
Der Druck ist enorm und zu spüren bekommen ihn besonders die Mitarbeiterinnen des ambulanten Pflegedienstes. Gleichzeitig fehlt es ihnen an Rückhalt und Unterstützung. Sie fühlen sich im Stich gelassen, von der Geschäftsführung, von der Kirche, von der Gemeinde.
Mitarbeiterinnen wollen einiges klarstellen
Jetzt melden sich die Pflege-Profis zu Wort. Gegenüber der Redaktion äußern die Mitarbeiterinnen der Diakonie Sozialstation ihre Einschätzung der Situation, sie sprechen über die Verzweiflung der überwiegend alten Patienten und sie möchten einiges klarstellen. Um ihre Familien und sich selbst zu schützen, möchten die Frauen anonym bleiben.
„Wir wollen klarmachen, dass wir unzufrieden sind damit, wie man mit uns umgegangen ist“, sagen die Frauen. Die Kritik richtet sich an die Geschäftsführung, aber auch an die Kirche. „Man hat uns hingehalten“, beklagen die Diakonie-Mitarbeiterinnen. Kommunikation sei ein Riesenthema gewesen.
„Ihr müsst euch gedulden“, „Macht euch keine Sorgen“, „Haltet uns die Stange“, habe es geheißen, wenn die Frauen gezielt nachfragten, wie es weitergehe und ob es einen Plan gebe für die Patienten.

Viele ambulante Pflegedienste sind in Not, so auch die Diakonie-Sozialstation Tarmstedt. Foto: Schmidt
„Letztlich geht es uns doch wieder ans Gewissen“
Dass sie weitermachen, das steht für die Frauen, die sich an diesem Nachmittag zum Gespräch mit der Zeitung treffen, außer Frage. Das, so sagen sie, empfinden sie als selbstverständlich den Menschen gegenüber, um die sie sich kümmern.
Gleichzeitig wissen sie, dass die Verantwortlichen in den Büros, in den Behörden, in der kleinen wie großen Politik genau darauf setzen: auf das Verantwortungsgefühl der Pflegekräfte. „Letztlich geht es uns doch wieder ans Gewissen“, sagen die Frauen.
Das sei übrigens ganz offen ausgesprochen worden. „Verlassen Sie nicht das sinkende Schiff“, habe es demnach vonseiten der Insolvenzverwaltung geheißen, „denn dann geht es gleich unter“.
Verzweiflung bei den pflegebedürftigen Menschen ist groß
Immer noch fahren die Frauen raus zu den Leuten. Rückhalt und Wertschätzung erfahren sie nur von der Pflegedienstleitung, sagen sie - und von den Patienten selbst. Dass sie da sind, noch da sind, ist für die pflegebedürftigen Menschen so wichtig, betonen die Frauen immer wieder während des Gesprächs.
„Was wir zuletzt mit den Patienten erlebt haben, das macht einen kaputt“, schildert eine Pflegefachkraft. „Ich war heute bei einer über 90 Jahre alten Frau, die hat so geweint, so sehr geweint. Die möchte keinen anderen Pflegedienst. Es tut mir in der Seele weh, diese Menschen so verzweifelt zu sehen.“
Eine andere Frau erzählt, dass sie gefragt worden sei, ob sie nicht privat zum Pflegen kommen könne und ein Mann habe ihr gesagt: „Wenn ich Geld hätte, würde ich euch das geben.“

Die Diakonie Sozialstation Tarmstedt ist insolvent. Ende Juni wird der Betrieb der ambulanten Pflege eingestellt. Foto: Harscher
Pflege-Profis wissen, dass sie gefragt sind
Die Frauen wissen, dass es für sie selbst weitergeht. Auch wenn sie gern in Tarmstedt geblieben wären, ein wohnortnaher Arbeitsplatz habe schließlich Vorteile, nicht nur, aber gerade für Mütter mit Kindern. Viele von ihnen arbeiten seit mehr als 10 Jahren, einige seit fast 20 Jahren für die Diakonie.
„Wir könnten sofort einen Job haben zum 1. Juli“, sagen die Pflegeprofis. Sie wissen, dass die Drähte bei den Pflegediensten in den Nachbargemeinden heißlaufen. Patienten, die Glück haben, bekommen sofort einen Platz, andere kommen auf die Warteliste.
Weil auch dort die Kapazitäten erschöpft sind und Personal für noch mehr Menschen fehlt. Und da ist sie wieder, die Sache mit dem Gewissen: „Wenn wir bei den anderen Pflegediensten zusagen, dass wir kommen, dann ist die Warteliste sofort abgearbeitet“, sagen die Frauen.
Wo bleibt der versprochene Inflationsausgleich?
Einige haben bereits Bewerbungsgespräche geführt. Dabei habe man ihnen gesagt, dass man verwundert darüber sei, wie man „so ein Ding an die Wand fahren kann“. Das fragen sich auch die Frauen. Zumal einige von ihnen bis heute darauf waren, dass die angekündigte Inflationsausgleichszahlung bei ihnen auf dem Konto aufläuft.
Auch die genannte Lohnerhöhung von mehr als 12 Prozent habe keine von ihnen bekommen. Einige, so erzählen es die Frauen, haben überhaupt keine Erhöhung ihres Gehalts bekommen.
Das auszusprechen ist ihnen wichtig, weil eine der Kernargumentationen für die wirtschaftliche Schieflage der Diakonie Sozialstation darauf fußte, dass höhere Gehälter und ein Inflationsausgleich gezahlt werden mussten.
Pflegenotstand ist kein plötzlich aufploppendes Problem
„Natürlich wissen wir, was läuft und wir sind auch offen für Veränderungen“, sagt eine der Frauen. „Wir wissen auch, dass Karl Lauterbach das eine sagt und das Gegenteil macht: Er will die Krankenhäuser leer bekommen, aber macht die häusliche Pflege unbezahlbar für Fachkräfte, indem er für eine Behandlung vier Euro bezahlt.“
Der Pflegenotstand sei kein plötzlich aufploppendes Problem. Er hat sich angekündigt. Ebenso wie die finanzielle Schieflage der Diakonie Sozialstation. „Mich nervt, dass der Kirchenvorstand da nicht mit drauf geachtet hat“, sagt eine Mitarbeiterin. „Die stellen sich hin und sagen: ‚Wir wussten von nichts‘“.

Pastor Benjamin Fromm aus Tarmstedt: „Es geht hohe um monatliche fünfstellige Fehl- beziehungsweise Defizitbeträge, die hätten erwirtschaftet werden müssen, um unsere Löhne und Gehälter und andere Ausgaben zu finanzieren.“ Foto: Harscher
Geschäftsführung hat auf Handlungsbedarf hingewiesen
Pastor Benjamin Fromm teilt auf Anfrage schriftlich mit, dass Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung von der Geschäftsführerin „ordnungsgemäß Ende des Jahres 2023 über den Abschluss 2023 sowie die Prognose und Planung für 2024“ informiert worden seien. „Hierbei hat uns Frau Ahlers auf den dringenden Handlungsbedarf hingewiesen und auf das sich abzeichnende Defizit bis Mitte des Jahres 2024.“
Die Frage danach, wie hoch ist der Defizitbetrag des ambulanten Pflegedienstes ist, beantwortet Fromm nicht. „Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich weiterhin keine konkreten Summen nennen werde, da diese nicht mehr zielführend sind“, so der Pastor und weiter: „Es geht um hohe monatliche fünfstellige Fehl- beziehungsweise Defizitbeträge, die hätten erwirtschaftet werden müssen, um unsere Löhne und Gehälter und andere Ausgaben zu finanzieren.“
Angehörigen müssen sich jetzt kümmern
„Wir können die Diakonie Sozialstation nicht mehr retten“, sagen die Frauen. Letztlich gehe es jetzt um die Patienten. „Die Angehörigen müssen sich jetzt um ihre Pflegebedürftigen kümmern. Das ist das A und O“, sagt eine langjährige Fachkraft.
„Die Pflegedienste sind bereit, Leute aufzunehmen, die sind bereit, uns aufzunehmen. Was wir daraus machen, ist unser Ding.“ Aber sie sagt auch, dass sie sich gewünscht hätte, dass die Verantwortlichen offen und ehrlich mit den Mitarbeitenden und den Patienten gesprochen hätten: „Es hieß immer: Wir kümmern uns um die Patienten. Und was ist passiert? Nichts ist passiert. Die Patienten müssen sich jetzt selbstständig kümmern.“

Jutta Rühlemann: „Die Haushalte der Einrichtung und der Kirchengemeinde sind hier strikt voneinander getrennt. Kirchensteuermittel dürfen nicht ohne Weiteres in die Finanzierung einer Einrichtung fließen.“ Foto: Privat
Kirche und Diakonie-Sozialstation
Die Diakonie-Sozialstation ist eine gemeinnützige Gesellschaft. Gesellschafter ist die Kirchengemeinde Tarmstedt/Wilstedt.Bis vor einigen Jahren befand sich die Sozialstation in Trägerschaft der Kirchengemeinde, deren Vorstand bildete die Geschäftsführung.
Eine Aufgabe, die für ein ehrenamtliches Gremium wie den Kirchenvorstand auf Dauer zu groß geworden sei, so Superintendentin Jutta Rühlemann. Der Betrieb wurde deshalb in eine gGmbH überführt. Rechte und Pflichten wurden auf eine Geschäftsführung übertragen. Kontrollinstanz sind Aufsichtsrat und Gesellschafterversammlung, die von einem Wirtschaftsprüfer unterstützt werden.
Die Kirche ist also Träger der Einrichtung in einer besonderen Rechtskonstruktion. „Letztlich vernünftig, denn eine Situation wie die der Insolvenz der Station hätte die Kirchengemeinde nicht bewältigen können. Die Haushalte der Einrichtung und der Kirchengemeinde sind hier strikt voneinander getrennt. Kirchensteuermittel dürfen nicht ohne weiteres in die Finanzierung einer Einrichtung fließen“, so Rühlemann.
Das sei nur ganz großen Ausnahmen möglich und „wenn nachgewiesen ist, dass eine einmalige Zahlung helfen könnte. Stellt sich aber heraus, dass eine Einrichtung, so wie die Tarmstedter Station, strukturell nicht refinanziert ist und dauerhaft eine Zuwendung benötigen würde, dann wäre das nicht statthaft“.