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Heimatgeschichte

TPolizeiakte aus dem Jahr 1946 entdeckt: Schwarzmarkt, Raub und Verwahrlosung

In Nissenhütten und einfachen Anbauten lebten nach dem Krieg im Jahre 1946 viele Menschen in Hannover. In Zeven waren Flüchtlinge und Vertriebene in Baracken an der Bremer Straße, Hinter der Ahe und im RAD-Lager an der Bahnhofstraße untergebracht.Foto: Historisches_Museum_Hannover

In Nissenhütten und einfachen Anbauten lebten nach dem Krieg im Jahre 1946 viele Menschen in Hannover. In Zeven waren Flüchtlinge und Vertriebene in Baracken an der Bremer Straße, Hinter der Ahe und im RAD-Lager an der Bahnhofstraße untergebracht.Foto: Historisches_Museum_Hannover Foto: Historisches_Museum_Hannover

Wer umzieht, dem fallen beim Packen meist vergessene Schätze in die Hände. So auch den Zevener Polizisten, die die Station an der Lindenstraße zum Jahreswechsel verließen. Der Schatz: Eine Akte aus den Jahren 1945 bis 1952.

Von Thorsten Kratzmann Sonntag, 11.02.2024, 16:56 Uhr

Zeven. Kaum ist das neue Jahr angebrochen, da erreicht den Kreiskommandanten der Polizei in Bremervörde, Hauptmann Wypior, die Abschrift eines Erlasses, den der Oberpräsident der Provinz Hannover auf Geheiß der Militärregierung bereits vor Weihnachten 1945 herausgegeben hat. Mit Nachdruck werden darin die Polizeidienststellen aufgefordert, das Trageverbot von Wehrmachtsuniformen und Militärmützen endlich durchzusetzen - und zwar „bis ins letzte Dorf“.

Die „Schonfrist“ sei abgelaufen. Der Militärgouverneur setze die Militärpolizei für die Überwachung ein, und werde Verstöße gegen das Trageverbot nunmehr „auch bei Heimatlosen“ mit Verhaftungen ahnden. Die Besatzungsmacht will „Feldgrau aus dem Straßenbild verschwunden sehen“, schreibt der Oberpräsident.

Die I.G.-Farben-Werke in Leverkusen werden 6,5 Tonnen Farbstoff nach Hannover liefern. Nach Verteilung auf die Kreise werden die Mittel ausgegeben, damit die Wehrmachtsuniformen umgefärbt werden können, lautet die Ankündigung.

Das Verbot erstreckt sich zudem auf das Tragen von Schirmmützen, wie sie von Angehörigen der SA getragen wurden, und auf das Tragen von Schiffchen. Sie sind in keiner Form und Farbe gestattet. Die Einheitsschirmmütze aus weichem Material ist in den Farben Feldgrau (Wehrmacht), Khaki (Wehrmacht und RAD), Schwarz (SS und Panzertruppe) sowie Dunkelblau (Hitlerjugend) verboten.

Jegliche politische Betätigung ist untersagt

Ein weiteres Verbot gibt der Stader Polizeichef, Oberstleutnant Maschler, im April 1946 als Kommandoanordnung an die Kreiskommandanten heraus. Die britische Militärregierung untersagt den Polizisten die Verwendung der deutschen Schrift. Sämtliche dienstlichen Schriftstücke, die in Handschrift abgefasst werden wie Lebensläufe, Prüfungsarbeiten, Gesuche, Korrekturen oder Anmerkungen sind fortan in lateinischer Schrift zu verfassen.

Bereits zuvor war den Polizeibeamten jegliche politische Betätigung untersagt worden. Die Kreiskommandanten hatten jedem Untergebenen in ihrem Dienstbereich eine Erklärung zur Unterschrift vorzulegen, sie gegenzuzeichnen und an Maschler zu senden. Im Wortlaut: „Mir ist eröffnet worden, daß es nach Befehl des Public Safety Offiziers bei der Militärregierung Stade allen Mitgliedern der Deutschen Polizei verboten ist, einer politischen Partei oder Gewerkschaft anzugehören. Weiterhin ist mir bekannt, daß ich in keiner Form an politischen Tätigkeiten teilnehmen darf.“

Kein Pardon bei Verstößen gegen die Uniformvorschrift

Im September des Jahres, der erste „Hannoversche Landtag“ ist soeben im Rathaus unter den Augen des Militärgouverneurs zusammengetreten und Oberstleutnant Maschler im Ruhestand, da platzt dessen Nachfolger, Oberrat Hagemeyer der sprichwörtliche Kragen. Anlass ist ihm der Uniformkragen, den Polizeibeamte „trotz mehrmaligen Hinweises auch heute noch verbotenerweise offen tragen“. Beamte, die gegen die Uniformvorschrift der Militärregierung verstoßen, werde er künftig disziplinarisch belangen, droht der Oberrat schriftlich an.

Paul Bayer als Polizist in Zeven mit Tochter Gaby Mitte der 50er Jahre. Der Transport von Gefangenen vom Fahrrad aus ist den Polizisten strengstens untersagt.

Paul Bayer als Polizist in Zeven mit Tochter Gaby Mitte der 50er Jahre. Der Transport von Gefangenen vom Fahrrad aus ist den Polizisten strengstens untersagt. Foto: Paul Bayer

Beschwerden der Briten erreichen den Stader Polizeichef ferner hinsichtlich deutscher Polizisten, die gefärbte Stiefelhosen und Schaftstiefel während der Dienstzeit tragen. Hagemeyer konzediert, es herrsche Mangel an langen Uniformhosen, gleichwohl sei es Polizisten lediglich gestattet, Stiefelhosen und Stiefel während der Nachtzeit zu tragen.

Eine andere Anordnung aus Stade betrifft die Grußpflicht. Hagemeyer musste sich Klagen britischer Offiziere anhören, weil sie von deutschen Polizisten in der Öffentlichkeit nicht gegrüßt worden seien. Der Oberrat reagiert darauf mit der Anweisung, dass deutsche Polizeibeamte Offizieren der britischen Armee und der britischen Militärregierung einen Gruß zu entbieten haben, wo immer sie ihnen in der Öffentlichkeit begegnen. Die Anweisung lässt der Oberrat in 245-facher Ausfertigung versenden.

Verwahrloste Jugend, Schwarzmarkt und Raub

Ungleich mehr Bedeutung werden die Adressaten der Erledigung ihrer beruflichen Aufgaben beigemessen haben. Denn um die öffentliche Ordnung ist es nicht gut bestellt, als der Winter endet. Ende Februar 1946 kommen Millionen Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in die vier Besatzungszonen. Polizisten haben Amtshilfe zu leisten, wenn sich Eingesessene weigern, Vertriebene unter ihrem Dach aufzunehmen.

Hagemeyer betont in seiner Anordnung, die Polizisten sollten ihre Bemühungen darauf ausrichten, „auf gütlichem Wege eine Lösung“ zu finden. Eine andere Gangart verlangt er im Hinblick auf die „Bekämpfung der Verwahrlosung Jugendlicher“. Die Bestimmungen des Lichtspielgesetzes, des Gaststätten- und des Jugendschutzgesetzes sind unnachgiebig durchzusetzen, lautet seine Anweisung. Ziel sei „die Beseitigung aller moralischen Übelstände, die sich aus der Kriegszeit ergeben haben“.

In der Kuppelhalle des Neuen Rathauses von Hannover tritt am 23. August 1946 der erste "Hannoversche Landtag" zusammen - am Mikrofon Generalleutnant Robertsen. Aus der preußischen Provinz Hannover wird im Herbst das Land Niedersachsen.

In der Kuppelhalle des Neuen Rathauses von Hannover tritt am 23. August 1946 der erste "Hannoversche Landtag" zusammen - am Mikrofon Generalleutnant Robertsen. Aus der preußischen Provinz Hannover wird im Herbst das Land Niedersachsen. Foto: Lessmann

Einen grassierenden moralischen Übelstand stellt der Schwarzmarkt dar. Die Zahl der Festnahmen wegen Schwarzhandels, -brennens und -schlachtens sowie Vieh- und Holzdiebstahls steigen. Wohl mit ein Grund dafür, dass die englische Besatzungsmacht die Strafverfolgung in die Hände deutscher Staatsanwaltschaften legt. Im Lichte dessen ist auch zu bewerten, dass Oberrat Hagemeyer im Februar 1946, nachdem zwei Rotenburger Polizisten von bewaffneten Polen ermordet worden waren, anordnet, Streifenpolizisten für den Einsatz bei Dunkelheit grundsätzlich mit Schusswaffen auszurüsten.

Raum schaffen für die aus Neu-Polen Ausgewiesenen

Diese Anweisung zeitigt offenbar sogleich einen Erfolg: Anfang März erhalten drei Rotenburger Polizisten eine Belobigung. Ihnen war es gelungen, zwei bewaffnete Polen festzunehmen, die einen Raubüberfall begangen hatten. Ein anderer Vorfall ist dem Stader Polizeichef Anlass, den „Transport von Gefangenen vom Fahrrade aus“ zu verbieten. Ein radelnder Polizist hatte „einen gefesselten Gefangenen an der Leine neben sich hergehen lassen“. Der Gefangene brachte den Polizisten zu Fall und flüchtete.

Informativen Charakter hat die Bekanntgabe einer Direktive der Militärregierung. Darin heißt es, es seien Personen in die russische Zone „zu befördern, die dort ihren normalen Wohnsitz“ haben - und zwar, „um so viel wie möglich Raum zu schaffen für die aus Neu-Polen Ausgewiesenen“, also die Vertriebenen aus Schlesien, Ostpommern, Ostpreußen, Westpreußen.

In die britische Besatzungszone, aus der die Länder Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein hervorgehen sollten, gelangten zwischen Anfang 1945 bis 1950 insgesamt rund 3,5 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene.

Infolge der vom Bomber-Comand der britischen RAF zwischen 1941 und 1945 zerstörten Wohngebiete deutscher Großstädte treffen die Vertriebenen neben Geflüchteten auf Ausgebombte, wenn sie auf Dörfer und Kleinstädte verteilt sind. Die Gegenüberstellung zweier Zahlen unterstreichen die Dimension der Herausforderung, vor der die Militärregierung, die deutschen Stellen und die Zivilbevölkerung stehen: Zeven hatte vor Kriegsbeginn 3233 Einwohner. 1950 sind es 6609 Einwohner.

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